Auf der Straße heißen wir anders
Anlässlich der szenischen Lesung im Kleinen Haus hier ein Auszug aus Laura Cwiertnias Roman Auf der Straße heißen wir anders, erschienen 2022 im Klett-Cotta Verlag. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Sie war zu schwer für das Leben. Die Träger heben den Sarg auf das Podest, und für einen Moment hängt er schräg in der Luft. Mit aller Kraft müssen sie sich gegen das schwere Holz stemmen, damit es ihren Händen nicht entgleitet. Schweiß perlt ihnen von der Stirn. Dabei ist dieser Frühlingstag nicht einmal besonders warm, schon gar nicht hier in der Friedhofskapelle. Seit meine Großmutter ihre Wohnung nicht mehr verließ, hat sie zugenommen. Es war, als würde die Schwerkraft sie in eine neue Form pressen. Auf dem Metermaß wurde sie kleiner, während die Waage immer neue Kilogramm anzeigte. „Wenigstens eine Sache, die in meinem Leben geklappt hat“, sagte meine Großmutter, wenn Tante Yeva sie beim Mittagessen in den runden Bauch stupste. Mit diesem Augenzwinkern, das für wenige Sekunden den ernsten Blick aus ihrem Gesicht wischte. Aber nie ganz. Sie war zu schwer für das Leben. Und nun sogar für den Tod.
Endlich steht der Sarg neben der Kanzel. Der schwarze Lack lässt das weiße Kreuz auf dem Deckel leuchten wie einen Wegweiser. Nicht zu übersehen und nur schwer zu vergessen. Ob sie sich deshalb diesen Sarg gewünscht hat, ganz oben auf ihrer Liste? Als der Priester ihn öffnet, sind sie deutlich zu sehen. Ihre krummen Beine. Die Augen in den tiefen Höhlen. Jede Falte ein Beweis für all das Gepäck, das meine Großmutter mit sich herumgetragen hat.
Der Priester beginnt zu sprechen. Die lange Kutte wippt im Takt seiner Worte. Die spitze Kapuze, der goldene Umhang, fein bestickt mit purpurfarbenen Rosen. Prunk aus einer anderen Zeit, der ihm eine Ernsthaftigkeit verleiht, die jeden Moment ins Komische zu kippen droht. Nur, dass mir an diesem Tag nicht zum Lachen zumute ist. Seine Worte sind laut und so durchdringend, dass ich den Blick nicht von ihm abwenden kann. Ich verstehe die Sprache nicht, und doch lässt mich das Gebet nicht los. Hayr Mer, Vater unser, Punkt acht auf der Liste meiner Großmutter. Die Liste. Vierzehn Unterpunkte für eine traditionelle armenische Beerdigung, notiert auf dem Notizblock des Taxiunternehmens, für das mein Vater arbeitet. In ihren kleinen Druckbuchstaben, die aussehen wie gemalt. Jede Linie ein kleines Kunstwerk, für das sie sich viel Zeit genommen hat. „Da ist deine Oma am Ende verrückt geworden, Karla.“ Als Tante Yeva uns erzählte, wie sie meine Großmutter reglos im Bett gefunden hatte, schüttelte sie ununterbrochen den Kopf. Die Liste hatte auf dem Nachttisch gelegen. Angeleuchtet von der kleinen Stehlampe. Ich suchte das Gesicht meiner Tante nach einem Lächeln ab. Einem Hinweis, dass sie ahnte, was diese Liste zu bedeuten hatte. Meine Großmutter ist nie in die Kirche gegangen, nicht seit ich mich erinnern kann. In Bremen-Nord gibt es gar keine armenische Gemeinde. Zwar sprach sie manchmal von einem Gott, aber nur, weil er sie noch immer nicht erhört hatte. Das silberne Kreuz um ihren Hals hielt ich für eine Gewohnheit, die meine Großmutter einmal um-, aber nie wieder abgelegt hat. Doch auf den Lippen meiner Tante war kein Lächeln zu finden.
Die szenische Lesung des Romans, eingerichtet von Alina Manoukian, ist am Samstag, dem 22. November um 19:30 Uhr als Gastspiel im Kleinen Haus zu sehen. Im anschließenden Gespräch ist u. a. Autorin Laura Cwiertnia zu Gast.
Veröffentlicht am 14. November 2025.