Bin Faust, bin deinesgleichen!

Anne Bohnenkamp-Renken ist als Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts zuständig für das Frankfurter Goethe-Haus und Germanistik-Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Mit Dramaturg Stefan Bläske sprach sie über Entstehung und Aktualität von Goethes Klassiker.

Stefan Bläske: Sie haben zusammen mit Silke Henke und Fotis Jannidis die Erarbeitung der Hybrid-Ausgabe Faust Edition digital geleitet. Faust und Goethe scheinen untrennbar verbunden. Wie kam Goethe eigentlich dazu?

Anne Bohnenkamp-Renken: Die erste Bekanntschaft mit dem Stoff hat Goethe schon als Kind gemacht. Sie wurde ihm durch die Puppenspieler vermittelt, die zur Zeit seiner Frankfurter Kindheit auf den Plätzen der Stadt für Unterhaltung sorgten. In seiner Autobiographie erzählt er davon, wie ihn der Faust-Stoff früh faszinierte: „Die bedeutende Puppenspielfabel des [Faust] klang und summte gar vieltönig in mir wieder. Auch ich hatte mich in allem Wissen umhergetrieben und war früh genug auf die Eitelkeit desselben hingewiesen worden. Ich hatte es auch im Leben auf allerlei Weise versucht und war immer unbefriedigter und gequälter zurückgekommen.“ (Goethe, Dichtung und Wahrheit, 2. Teil, 10. Buch)

Die Faszination hat ihn durchs Leben begleitet?

Mehr als sechzig Jahre hat Goethe am Faust gearbeitet. Mit großen, manchmal jahrelangen Pausen. Der Stoff hat ihn bis zuletzt nicht losgelassen – und es ist aufregend zu sehen, wie sich die Zeitenwende, die Goethes Leben prägt – vom Ancien regime zur modernen Gesellschaft – in dieser Arbeit spiegelt. Die letzten Änderungen am Manuskript des zweiten Teils der Tragödie, den er im Sommer 1831 abgeschlossen hatte – und zu Lebzeiten nicht mehr publiziert wissen wollte –, stammen aus den letzten Wochen seines über achtzigjährigen Lebens. Am 24. Januar 1832 notiert er im Tagebuch: „Neue Aufregung zu Faust in Rücksicht größerer Ausführung der Hauptmotive, die ich, um fertig zu werden, allzu lakonisch behandelt hatte“. 

Könnte man sagen, dass Goethe sich selbst schon angefangen hat zu musealisieren? 

Nun, Goethe hat mit fortschreitendem Alter festgestellt, dass er angefangen habe, sich selbst historisch zu werden. Von Musealisierung seiner selbst würde ich dabei nicht sprechen. Eher von einer Archivierung seiner selbst: für die Ordnung seiner Manuskripte hatte er 1816 einen Mitarbeiter gewonnen. Anders als in jüngeren Jahren hat er die Arbeitspapiere der späten Jahre weitgehend aufbewahrt – man kann sagen, er war einer der Erfinder des Dichterarchivs.

Wozu das alles aufbewahren?

Er war, auch als Naturforscher, überzeugt, dass die Kenntnis davon, wie etwas entstanden sei, zum besseren Verständnis des Gewordenen beitrage. Für uns ist das heute hilfreich: das reichhaltig dokumentierte Leben und Wirken Goethes eröffnet uns Einblicke in seine Werkstatt und gibt so unter anderem Hinweise auf die vielfältigen Quellen, die Goethe bei der Arbeit am Faust nutzte. Wir können auch aus großer historischer Distanz verfolgen, dass Goethes Werk tatsächlich das Werk eines ‚Kollektivwesens‘ ist („Mon oeuvre est celle d'un être collectif et elle porte le nom de Goethe / Mein Werk ist das eines Kollektivwesens und es trägt den Namen ‚Goethe‘“. Goethe zu Frédéric Soret, 17.2.1832).

Zugleich hat Goethe einiges entschärft, sich gleichsam selbst zensiert? 

Goethe hat immer auch mit den Reaktionen des Publikums gerechnet und dem herrschenden Geschmack manches geopfert – ein berühmtes Beispiel von Selbstzensur ist der Werther: die zweite Ausgabe dieses Skandalromans, der ihn als jungen Autor sozusagen über Nacht berühmt gemacht hatte, hat er verändert, aus Rücksicht auf die Wirkung im Publikum. Als fünfzig Jahre später eine Jubiläumsausgabe erschien, hat er überlegt, dass es doch besser wäre, die unbearbeitete erste Version nachzudrucken. Das ist dann freilich nicht geschehen.

Im Faust wurde aus dem drängenden „Schoos“ der „Busen“, die Satansmesse ganz gestrichen. Warum?

Goethe war sich ja selbst sehr bewusst, dass manche ‚Entschärfung‘ aus Rücksicht auf den Publikumsgeschmack der Qualität des Werkes nicht zuträglich war. Die Abschwächung von ‚Schoos‘ zu ‚Busen‘ ist offensichtlich ein Verlust an Intensität, der sich nur mit Blick auf die gängigen Vorstellungen von Schicklichkeit erklären lässt, auf die Goethe als öffentliche Person Rücksicht nehmen musste oder wollte. Bei der Satansmesse ist es in der Forschung umstritten, ob tatsächlich allein die Rücksicht aufs Publikum Goethe zum Verzicht motiviert hat – oder ob die Entscheidung, diese Szenen wegzulassen nicht auch konzeptionelle Gründe hatte. 

Nicht nur mit dem „Vorspiel auf dem Theater“: Goethe reflektiert immer auch die eigenen Medien, die Sprache, das Theater?

Wir wissen, dass Goethe sich den Faust – auch den zweiten Teil – durchaus auch auf der Bühne vorgestellt hat. Dabei war er selbst Theaterpraktiker genug, um zu wissen, dass dafür einiges an Bearbeitung erforderlich sein würde. Und er hat dafür plädiert, sich auf die sinnliche Wirkung des Kunstwerks einzulassen, statt überall nach „tiefen Gedanken und Ideen“ zu suchen: „Ei, so habt doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen, euch erheben zu lassen, ja euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermuthigen zu lassen; aber denkt nur nicht immer, es wäre alles eitel, wenn es nicht irgend abstracter Gedanke und Idee wäre! Da kommen sie und fragen, welche Idee ich in meinem Faust zu verkörpern gesucht. Als ob ich das selber wüßte und aussprechen könnte!“ (Goethe zu Eckermann, 6.5.1827)

Von Religions- und Kapitalismuskritik über Naturbeherrschung bis KI, zu fast jedem Thema beziehen sich Menschen irgendwie auf Faust. „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“? Entsprechend bleibt er immer aktuell?

Ja, unbedingt. Wir finden immer wieder erstaunlich aktuelle Bezüge. Die Frage ist nur, wie es gelingen kann, die uns ferner rückende Sprache lebendig zu halten. Da der Faust nicht nur ein Theaterstück, sondern vor allem eine große Sprachdichtung ist, fällt es schwer, ihn in eine moderne Sprache zu ‚übersetzen‘. Gleichzeitig wird uns Goethes Sprache zunehmend historisch. Da ist die Inszenierung auf dem Theater eine große Chance, Zugänge zu eröffnen – vielleicht auch solche, die den Besucher ermuntern, den Text dann auch selbst zu lesen.

 

 

Veröffentlicht am 7. Mai 2024