Das Leben als Probe

Gregor Runge anlässlich der Premiere Tomorrow we dreamed of yesterday über den Performance-Künstler Michikazu Matsune.

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Was wäre, wenn das Leben eine Serie von Proben wäre, für den einen Moment? Oder: Eine Reihe von Ereignissen, die unweigerlich auf einen bestimmten Punkt hinauslaufen? Sterben, zum Beispiel. Aber auch: Feststellen, dass die eigenen Lebenslinien immer schon mit denen eines anderen Menschen verknüpft waren, ohne davon zu wissen – weil der Moment, an dem sie schließlich ineinanderlaufen, erst noch passieren musste. Diesen Verknüpfungen nachzuspüren, die ungeahnten Verbindungen und Parallelen von Lebensläufen, historischen Ereignissen und persönlichen Anekdoten festzuhalten – und sie da, wo keine sind, zu erfinden – gehört zur Methode von Michikazu Matsune. Von Bühnenperformances über Interventionen in öffentlichen und privaten Räumen bis hin zu Zeichnungen und Publikationen reichen die Arbeiten, die der in Kobe geborene, seit den 1990er Jahren in Wien lebende Künstler aus den (nur scheinbaren) Zufällen des Lebens strickt.

Eigentlich passieren ja ständig Dinge, von denen man noch nicht weiß, dass sie der Beginn einer größeren Erzählung sind.

Und natürlich beginnt auch die Geschichte unserer Zusammenarbeit mit Michikazu Matsune vollkommen unscheinbar, im Oktober 2018 in Bergen, einer Stadt im Südwesten Norwegens, in der es an 300 Tagen im Jahr regnet, was vielleicht der Grund ist oder auch nicht, warum sich dort mit BIT Teatergarasjen eines der legendärsten Produktionshäuser der europäischen Performing Arts Szene befindet. Da sah ich in jenem Oktober eine Arbeit von eben jenem Michikazu Matsune: Goodbye, eine Lecture-Performance, in der Matsune eine Reihe von Abschiedsbriefen vorliest und dazu tanzt. Wie hier vom Brief der Kaiserin Maria Theresia an ihre Tochter Marie Antoinette, den sie ihr am Tag ihrer Abreise nach Frankreich zur Hochzeit mit Ludwig XVI. schrieb, über den Abschiedsbrief des Sängers Kurt Cobain, den Brief eines Kamikaze-Piloten an seine beiden Kinder bis zum Brief eines blinden Mannes an seinen Blindenhund zwischen den Zeilen ein ganzes Panorama an persönlichen und historischen Beziehungen aufscheint und mit simpelsten Mitteln lebendig wird, ist faszinierend.

Ganz so, als würde man Erinnerungen in erzählerische Objekte übersetzen, als Kristallisationen von etwas, das man eigentlich nicht greifen kann.

Ich hätte in den Jahren danach einfach mal von Bremen nach Wien fahren können, um Michikazu Matsune zu treffen. Aber zu dieser Geschichte gehört, dass wir beide erst nach Yokohama reisen mussten, um dort im Dezember 2023 in einer Kneipe (die zugegebenermaßen den abendlichen Treffpunkt eines Performing Arts Meetings bildete) eher zufällig miteinander ins Gespräch zu kommen. In der Folge lernte ich seine Arbeit besser kennen, und er besuchte uns in Bremen, was recht schnell in die gemeinsame Feststellung mündete, dass wir uns unbedingt zu einer gemeinsamen Produktion mit Unusual Symptoms verabreden müssten. Seiner ersten Arbeit mit einer Tanzkompanie – denn obwohl Michikazu Matsune selbst Tanz studiert hat, bezeichnet er sich selbst eher als Performance-Künstler denn als Choreograf. Und obwohl er gerade in seiner Rolle als Dozent an verschiedenen Kunsthochschulen immer wieder auch mit größeren Gruppen arbeitet, sind seine Bühnenstücke häufig auf Solo-, Duo- und Trio-Besetzungen beschränkt, in denen er in der Regel auch selbst auf der Bühne steht. Arbeiten wie All Together, in denen er die Geschichten von Menschen erzählt, die uns wichtig sind oder einmal wichtig waren, die aber aus dem einen oder anderen Grund in diesem Moment nicht bei uns sein können. Oder seine Performance Kono atari no dokoka, in der er gemeinsam mit der französischen Choreografin Martine Pisani und dem niederländischen Maler und Performer Theo Kooijman eine Reise durch Zeit und Raum unternimmt, von einem Strand in Kobe zum Hafen von Marseille, auf der Suche nach einer kollektiven Form des Erinnerns an die jeweils eigenen Biografien. Text wird Choreografie, Bilder werden Text, Readymades und Found Footage werden integriert, umgedeutet und neu zusammengesetzt.

Michikazu Matsune sammelt Geschichten, die sich hinter unseren Namen verbergen.

Er schläft schlecht und macht daher aus den Schlafgewohnheiten von Menschen, die er interviewt, ein Buch. Er performt, schreibt, inszeniert, gestaltet – und beweist dabei immer wieder ein außergewöhnliches Talent, Menschen aus ihren eigenen Geschichten heraus zu brillanten Performer:innen zu machen. In Tomorrow we dreamed of yesterday, seiner nun ersten Arbeit mit Unusual Symptoms, macht er die Geschichten hörbar, die hinter den Bewegungen der Tänzer:innen stecken: „Schritte, die wir vergessen haben. Zeichen, die wir nicht lesen konnten. Tänze, die wir nicht mehr tanzen wollten. Dramen, die wir erlebt haben. Träume, die wir verfolgten ... Haben wir unser ganzes Leben lang geprobt, um dort zu sein, wo wir heute sind, um heute Abend gemeinsam auf der Bühne zu stehen?“

Wer wohnt mit uns, auf unseren Bühnen, in unseren Häusern?

Gibt es da noch andere, von denen wir nicht wissen oder die wir vergessen haben? Geister, Monster, Ahnen, vor denen wir uns fürchten, die aber vielleicht auch Beschützer:innen sind – wenn wir sie besser kennenlernen. Von wo aus erzählt man ein Leben? Von wo aus erzählt sich ein Tanzstück? Um das rauszufinden, bleibt wohl nur eines. In Michikazus Worten: „Let’s test it!“

 

--- english version ---

 

Life as rehearsal

Gregor Runge on performance artist Michikazu Matsune on the occasion of the premiere of Tomorrow we dreamed of yesterday.

What if life were a series of rehearsals, for that one moment? Or a series of events that inevitably lead to a certain point? Death, for example. But also realising that your own life lines have always been linked to those of another person without you knowing it – because the moment when they finally converge had yet to happen. Tracing these connections, capturing the unexpected links and parallels between life stories, historical events and personal anecdotes – and inventing them where there are none – is part of Michikazu Matsune's method. The works that the Kobe-born artist, who has lived in Vienna since the 1990s, weaves from the (only apparent) coincidences of life range from stage performances and interventions in public and private spaces to drawings and publications.

Actually, things are constantly happening that we don't yet know are the beginning of a larger narrative.

And, of course, the story of our collaboration with Michikazu Matsune also began in a completely unremarkable way, in October 2018 in Bergen, a city in southwestern Norway where it rains 300 days a year, which may or may not be the reason why BIT Teatergarasjen, one of the most legendary production houses on the European performing arts scene, is located there. It was there, in October, that I saw a work by Michikazu Matsune: Goodbye, a lecture performance in which Matsune reads a series of farewell letters and dances to them. It is fascinating how here, from the letter written by Empress Maria Theresa to her daughter Marie Antoinette on the day of her departure for France to marry Louis XVI to the farewell letter of singer Kurt Cobain, the letter of a kamikaze pilot to his two children, and the letter of a blind man to his guide dog, a whole panorama of personal and historical relationships emerges between the lines and comes to life with the simplest of means.

It's as if memories are being translated into narrative objects, crystallisations of something that cannot actually be grasped.

In the years that followed, I could have simply travelled from Bremen to Vienna to meet Michikazu Matsune. But the story goes that we both had to travel to Yokohama first, where we happened to strike up a conversation in a pub (admittedly the evening meeting place of a performing arts conference) in December 2023. As a result, I got to know his work better, and he visited us in Bremen, which quickly led to the joint decision that we absolutely had to arrange a joint production with Unusual Symptoms. This was his first work with a dance company – because although Michikazu Matsune studied dance himself, he describes himself more as a performance artist than a choreographer. And although he often works with larger groups in his role as a lecturer at various art schools, his stage pieces are frequently limited to solo, duo and trio casts, in which he usually appears on stage himself. Works such as All Together, in which he tells the stories of people who are important to us or once were, but who for one reason or another cannot be with us at this moment. Or his performance Kono atari no dokoka, in which he embarks on a journey through time and space together with French choreographer Martine Pisani and Dutch painter and performer Theo Kooijman, from a beach in Kobe to the port of Marseille, in search of a collective form of remembering their own biographies. Text becomes choreography, images become text, readymades and found footage are integrated, reinterpreted and reassembled.

Michikazu Matsune collects stories hidden behind our names.

He sleeps poorly, so he writes a book about the sleeping habits of people he interviews. He performs, writes, directs, designs – and in doing so repeatedly demonstrates an extraordinary talent for turning people from their own stories into brilliant performers. In Tomorrow we dreamed of yesterday, his first work with Unusual Symptoms, he makes the stories behind the dancers' movements audible: ‘Steps we have forgotten. Signs we couldn't read. Dances we no longer wanted to dance. Dramas we have experienced. Dreams we pursued... Have we rehearsed our whole lives to be where we are today, to stand together on stage tonight?’

Who lives with us, on our stages, in our homes?

Are there others we don't know about or have forgotten? Ghosts, monsters, ancestors we fear, but who may also be protectors – if we get to know them better. From where do you tell a life story? From where do you tell a dance piece? There's only one way to find out. In Michikazu's words: ‘Let's test it!’

 

Veröffentlicht am 23. Mai 2025.