Das September-Editorial
Michael Börgerding über die Dinge, wegen denen sich das Leben und auch ein Theaterbesuch lohnen.
Das mit der Liste fing nach ihrem ersten Versuch an. Eine Liste mit alldem, was an der Welt schön ist. Allem, wofür es sich zu leben lohnt.
- Eiscreme.
- Wasserschlachten.
- Länger aufbleiben dürfen als sonst und fernsehen.
- Die Farbe gelb.
- Sachen mit Streifen
- Achterbahnen.
- Leute, die stolpern.
Lauter Sachen, die ich mit sieben total gut fand, aber Mama nicht unbedingt.
Mit diesen Sätzen beginnt All das Schöne (Every Brilliant Thing), ein komisches Stück über eine Krankheit, die nie lustig ist: Depression. Der Brite Duncan Macmillan hat es geschrieben – es ist schon beim Lesen herzergreifend und trotzdem gänzlich unsentimental. Ein kleiner Junge kämpft um das Leben seiner Mutter, ein Erwachsener um sein eigenes Leben, indem er die Sachen aufzählt, für die es sich zu leben lohnt. Am Ende des Stückes sind es 1.000.000 brillante Dinge. Susanne Schrader spielt dieses Stück im großen Haus und man ist mit ihr sofort mitten in den Widersprüchen des Alltags und unserer Existenz. Ein lebenskluger Text, eine wunderbare Schauspielerin und ein gemeinsamer Ort des Nachdenkens und Miterlebens. Eine Sache, für die es sich lohnt ins Theater zu gehen. Und nicht die einzige im September.
Schäfchen im Trockenen von Anke Stelling wäre ein weiterer Grund. Der Text ist wütend, er ist witzig und rücksichtslos ehrlich. Für ihren Roman erhielt sie im letzten Jahr den Literaturpreis der Leipziger Buchmesse. Die Süddeutsche Zeitung schrieb: „Ein Schlag in die Magengrube aller naiven Freunde der Mittelklasse.“ Die Regisseurin Nina Mattenklotz und ihre Schauspielerin Karin Enzler machen daraus einen kleinen großen verspielten Theaterabend, keinen Schlag in die Magengrube, eher – wenn es so etwas gibt – ein klassenkämpferischer Griff an unser Herz. Mit Abstand das Schönste wäre eine dritte Sache. Ein Abend mitten aus dem Herz der Oper mit Duetten, Terzetten, Ensembles. Konzipiert, realisiert, moderiert von den Mitgliedern des Musiktheaterensembles und begleitet am Flügel von den Korrepetitorinnen und Pianisten des Hauses. Keine Arien! Denn: Allein war gestern! Wer hoch hinaus will, muss hochstapeln. Fake it, until you make it. Klassenunterschiede sind bestes Komödienmaterial, das wusste schon im vorletztem Jahrhundert Eugène Labiche. Und Felix Rothenhäusler treibt die Lustspielmechanik in das vollends Absurde oder bis in die Kenntlichkeit. Trüffel Trüffel Trüffel handelt von uns, von Kleinbürger*innen, die einander Großbürgerlichkeit vorspielen, und sich im Spiegel des Stücks und des Bühnenbildes erkennen – oder eben nicht. In Bed with Madonna. Ständig ausverkauft: Der Madonna-Liederabend, der im Dezember 2019 im Kleinen Haus Premiere feierte, war ein Publikumsliebling. Und Annemaaike Bakker im Zentrum des Abends eine Sensation. Wir holen die Show mit einigen sehr guten Songs und noch besseren Argumenten, warum das Leben sich lohnt, nun auf die große Bühne (damit ihn ein paar mehr Menschen als im Kleinen Haus sehen dürfen!). Und der Sound ist dann doch noch einmal ein anderer. Schließlich und für den September – neben den Konzerten Aus dem Hof im Kleinen Haus – ein letzte Sache, für die es lohnt, wieder ins Theater zu gehen: düsterer spatz am meer/ hybrid (america). Zugegeben, der Titel ist nicht eben einladend, aber das Stück so notwendig wie aufregend. Die Geschichte beginnt in den 80er Jahren. Eine amerikanische Geschichte. Sie führt uns in die schwindelnde Höhen der Business-Welt der 90er, zum großen Konkursfall 2008 mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers und endet 2015 in einer tief gespaltenen Gesellschaft, in der ein junges Paar mit legal erworbenen Waffen ein Attentat begeht. Der Autor Fritz Kater hat die Corona-Pause genutzt und einen großen Abgesang auf den amerikanischen Traum geschrieben, den der Regisseur Armin Petras mit einem spielwütigen Ensemble bildstark zur Uraufführung bringen wird.
Mein Ziel war, die Tausend zu schaffen. Und ich durfte nicht mogeln, was hieß:
a) Keine Wiederholung.
b) Die Sachen mussten wirklich großartig sein und lebensbejahend.
c) Nicht zu viele materielle Dinge.
Ein paar Monate lang war ich komplett auf die Liste fixiert.
- Entscheiden, dass man nicht zu alt ist, um auf einen Baum zu klettern.
- Nacktbaden.
- Nachtisch als Hauptgericht essen.
- Richtig gute Orangen.
Ein Apeirogon ist eine zweidimensionale geometrische Form mit einer unendlichen Zahl von Seiten. μ=180∘=π. Der Ire Colum McCann, der in New York lebt, hat für mich das Buch des Sommers geschrieben. Sein Titel ist Apeirogon. Es erzählt die wahre Geschichte des Israeli Rami Elhanan, dessen Tochter von einem palästinensischen Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt wurde, und vom dem Palästinenser Bassam Aramin, dessen Tochter von einem israelischen Soldaten erschossen worden ist. Es erzählt von ihrer Freundschaft und ihrem Kampf für den Frieden in Israel und das Ende der Besatzung von Palästina. Symmetrie und Wiederholung strukturieren den in zweimal 500 kleine bis kleinste Prosastücke eingeteilten Text mit Verweisen unter anderem auf Borges, Kafka, Rumi, 1001 Nacht und die Kabbala. Unendliche Seiten, Ansichten, Perspektiven, Spannungen, Geschichten – und trotzdem voller Empathie und Wärme. Wie daraus beim Lesen miteinander kommunizierende Motivreihen entstehen und Spannungen sich ausgleichen, ist aufregend und sehr bewegend.
Homöostase ist ein Begriff, der aus der Biologie oder der Gehirnforschung kommt und heißt übersetzt Spannungsausgleich. Etwas, was jede menschliche Zelle will, muskulär wie neuronal. Es gibt aber auch eine soziokulturelle Homöostase, einen gesellschaftspolitischen Spannungsausgleich – oder Interessenausgleich. Zumindest eine Spannungsdynamik, die lebbar ist. Zumindest möchte ich gerne glauben, dass eine solche Dynamik möglich ist. Interessen müssen dazu benannt werden, gegeneinander ausgewogen, Kosten müssen erstellt werden, es ist genau zu überlegen, was wem schaden könnte, bevor man zu Entscheidungen kommt. Also etwas, was wir alle im Alltag, in der Partnerschaft, in der Familie, wo auch immer mehr oder weniger probieren: Interessenausgleich, Machtabbau! Was so einfach klingt, ist allerdings auch Arbeit. Spannungsausgleich muss erarbeitet werden, psychische Leistungen besonderer Art sind dafür notwendig. Dazu braucht es gesunde Körper und einigermaßen stabilisierte Psychen, wechselseitiges Vertrauen, Wertschätzung und Respekt. Und Strukturen, die so etwas ermöglichen. Auch an einer solchen inneren Homöostase muss sich ein Theater messen lassen, das sich lohnt zu behaupten. Auch und gerade in den Zeiten der Pandemie.
Letztere soll uns nicht davon abhalten, gut gelaunt und gemeinsam in die neue Spielzeit zu gehen. Es geht darum, gute Sachen und gute Menschen zu verbinden. Gemeinsam sind wir so unglaublich viel klüger als jede und jeder Einzelne. Auch besser, moralisch besser – wenn man Rutger Bregman glauben darf, der eine sehr kluge „neue Geschichte der Menschheit“ geschrieben hat unter dem Titel Im Grunde gut. Suchen, checken, sammeln, lesen, kombinieren. Sich nicht aufhalten mit der Kritik des Unbrauchbaren oder Schlechten. Just forget it. Sich an die guten Sachen und die guten Menschen halten. Es gibt so viele.
999997. Das Alphabet.
999998. Unpassende Songs in gefühlvollen Momenten.
999999. Eine Aufgabe abschließen.
1000000. Eine Platte zum ersten Mal anhören. Sie in den Händen halten, auf den Teller legen und die Nadel aufsetzen, das leise Zischen und Knacken des Saphirs auf dem Vinyl, bevor die Musik beginnt, dasitzen und zuhören, während man die Begleittexte auf dem Cover liest.