Die, die Worte tanzen lässt

Die Choreographin Antje Pfundtner hat den Deutschen Theaterpreis DER FAUST mit ihrer Moks-Produktion „Ich bin nicht du“ gewonnen.

Beschwingt, assoziativ, mit Sprache spielend: Die Choreographin Antje Pfundtner verarbeitet in ihren Stücken Alltagsabsurditäten und große Themen wie Abschied oder Identität – für Zuschauer jeden Alters. Dieser Text von Jens Fischer ist im November 2020 anlässlich der FAUST-Nominierung mit ihrer Moks-Produktion Ich bin nicht du in der Deutschen Bühne erschienen. Nun hat sie ihn gewonnen.

Ganz verhamburgert ist Antje Pfundtner auch nach 19 Jahren in der Hansestadt noch nicht. Mit ihrem Freund, dem Lichtdesigner Michael Lentner, und zwei Kindern lebt sie zwar im tiefsten Altona, kann als gebürtige Dortmunderin aber jederzeit herzig ruhrpöttisch loslegen: „Ich sach mal so: Meine Arbeiten sind null kryptisch.“ Denn das ist die Kritik, die immer mal wieder aufploppt, da die Choreographin das Grundnarrativ ihrer Tanzstücke gern auf das Schönste zerhackt. Alles wird neu collagiert und angereichert mit wirklichen und fabulierten autobiographischen Anekdoten serviert. Das war schon so in ihrem auch international tourenden Solo mit dem programmatischen Titel eigenSinn (2003): Hier experimentiert sie mit Ballettzirzensik, Modern-Dance-Sportivität und dem Motionskanon des Alltags, verdreht die Bewegungen, um den Exhibitionismusdrang sowie den Erotikwillen zu konterkarieren, und sucht ihren eigenen Ausdruck für weibliche Schönheit in Gestalt, Bewegung und Haltung. Das Ergebnis ist gleichermaßen sinnlich wie verkopft – und kauzig mit Selbstironie durchwirkt. Auf diese Weise legt die Künstlerin locker gesponnene Interpretationsfäden aus, auf dass sie zu einem Sinnknäuel aufgewickelt werden. Pfundtner möchte die Zuschauer öffnen, sich wirklich auf das Dargebotene einzulassen.

„Ich will ja nicht alles erklären, die sollen selbst etwas hinzufügen. Erst dann wird es eine gute Aufführung.“

Antje Pfundtner ist Tänzerin. Was ihr nicht in die Wiege gelegt wurde. Denn sie kam vor 44 Jahren mit einer zerebralen Bewegungsstörung auf die Welt. Das Nervensystem war mit den Muskeln nicht richtig verknüpft, die willentliche Motorik damit lahmgelegt. Ein Leben im Rollstuhl wurde ihr prophezeit. Aber die Mutter trainierte sie ein Jahr lang fünfmal pro Tag, stimulierte so den Verbindungsaufbau der neuronalen Netzwerke, bis Pfundtner Chefin in ihrem Körper war und ihn steuern konnte. „Seither interessiert mich natürlich alles, was mit Bewegung zu tun hat“, sagt sie. Das begann ganz klassisch mit dem Besuch einer Ballettschule. Das Dortmunder Mädchen kam in einen Kurs von Youri Vámos, damals Direktor der Tanzsparte des örtlichen Theaters, und fiel derart positiv auf, dass sie auf die Bühne geholt und eine Verschickung ins Internat John Neumeiers angebahnt wurde. Pfundtner aber entschied sich fürs musische Gymnasium in Essen-Werden, wo Tanz als Abiturfach zu belegen war und in Kooperation mit der Folkwang-Universität gelehrt wurde. Anschließend ging es nach Amsterdam an die Kunsthochschule zum Studium „Moderne Theater-dans“, Fortbildungen folgten in New York. Tanz an sich genügte der Künstlerin zu Karrierebeginn. Mit einer Nussknacker-Überschreibung setzte sie sich damit auch 2012 noch mal auseinander, erweiterte aber bald ihr Ausdrucksspektrum ins Performative.

Sie wuchs dabei in die Rolle einer Entertainerin hinein, die verstärkt mit Musik, Schauspiel, von bildender Kunst inspirierten Objekten und Sprache arbeitet.

Auslöser der Begeisterung für hybride Formate war ein internationales Stipendiat*innen-Programm: Da Pfundtner nur wenig Zeit zur Präsentation zur Verfügung stand, entschied sie, ihren Lebenslauf während ihrer Choreographie-Kostprobe zu erzählen. Das muss so selbstverständlich funktioniert haben, dass es überbordend positive Rückmeldungen gab – und sie diese Verquickung zu ihrem Markenzeichen machte. „Antje lässt Worte tanzen, die eine Brücke zu ihrem Tanz und Teil ihrer Choreographie werden. In ihren Projekten gibt es immer eine Stimme, die von ihr selbst ausgeht und die mit ihrem Team und später auf der Bühne mit den Zuschauern und Zuschauerinnen räsoniert. Das ist vielleicht das Geheimnis ihrer Arbeit, denn das Publikum findet immer schnellen Zugang zu ihrer Kunst“, sagt Amelie Deuflhard, Chefin des Hamburger Kulturzentrums Kampnagel, wo Pfundtners Arbeiten zumeist uraufgeführt werden. Wobei Sprache bei ihr immer auch Mittel zu purem Jux ist: Sagt jemand „Ich stehe auf“ auf der Bühne, lautet der nächste Satz beispielsweise: „Ich stehe auf Freundschaft“ – Pfundtner liebt solche Spielereien. Wie ihre Assoziationskunst auf der Bildebene funktioniert und dort das Absurde im Alltag seziert, alles infrage und dabei in einen neuen Zusammenhang gestellt wird, zeigt exemplarisch Alles auf Anfang (2018). Pfundtner sagt „I begin“ auf einem zusammenbrechenden Liegestuhl. Das könne sie so gar nicht behaupten, erwidert ein Kollege. Denn wenn sie Beginnen konstatiert, ist es ja bereits vorbei, die Idee vom Anfangen bricht also mit der Praxis des Anfangens zusammen. Zuvor hatte bereits eine Partygesellschaft versucht, zu Pop-Oldies nostalgisch aus der Hüfte heraus loszutanzen. Aber nach wenigen Sekunden wird die animierende Klangzuspielung immer wieder ausgeblendet, zurück bleiben Körper, die im Zauber des Anfangs den Schmerz des Endes entdecken.

Wichtig ist der Künstlerin, dass all das unabhängig vom Alter zugänglich ist.

Zeitgenössischen Tanz muss man lesen lernen, Pfundtners Version intuitiv verstehen. Beispielsweise in nimmer (2014). Ganz bewusst seien Vorstellungen ausschließlich für Kinder und ausschließlich für Erwachsene angesetzt worden – beides habe funktioniert. Als Märchenerzählerin gibt Pfundtner in dem Stück eine beliebte Livesituation vor, aus der sie ihre multiperspektivisch verschlungenen Andeutungen übers Verlieren von Dingen und das Verschwinden von Menschen entwickelt. Das hat einerseits schnell etwas Magisches, weil Pfundtner deutlich macht, dass sich nichts im Nichts auflöst, sondern in Erinnerungen weiterlebt. Allerdings nicht mehr physisch ins eigene Leben einbezogen werden kann, weswegen der Abend auch etwas Melancholisches hat. Allen Abschweifungen, eingezogenen Metaebenen und phantasievollen Vergewisserungen zum Trotz habe gerade das Kinderpublikum, so die Künstlerin, sofort erkannt: „Es geht ums Sterben.“ Und um den Trost: Endgültiges Verschwinden geht nimmer. Es sind diese großen Themen, die Pfundtner umtreiben. Dabei muten die Angebote zum Mit-, Weiter-, Drumherum- und Hinfortdenken wie vorläufige Entäußerungen an, so leicht wirkt alles. Die inhaltliche Spurensuche ist immer auch eine Suche nach äußerer Struktur – balancierend zwischen „dem Lächerlichen und dem Erhabenen, zwischen Sinn und Unsinn“, wie die Künstlerin es beschreibt. Aber der Eindruck des beschwingt improvisierten Tanzspiels täuscht. Unberechenbarkeit ist ausgeschlossen, alles supergenau gearbeitet, selbst die Dialogangebote. Dem perfekten Timing der Abläufe zuliebe werden sie meist nicht an Zuschauer adressiert, sondern unters Publikum gemischte Performer eingebunden. Im Laufe der Jahre wurden Pfundtners Arbeiten persönlicher.

„Wenn ich Ich auf der Bühne sage, dann bin das zunehmend mehr auch ich“, sagt sie.

Selbstreferenziell waren ihre Stücke schon immer. Ein Klavier gehört meist zur Ausstattung, das Pfundtner seit Kindheitstagen gut zu bedienen weiß, und ein Urmonsterfell spielt häufig mit. Fortgesetzt geht es um Befragungen der Tanzkunst und der Erwartungen des Publikums – also um Repräsentation und Identität. Eine Szene aus Tim Acy (2010) taucht seit Jahren beständig neu auf. Auf Post-it-Zetteln notiert Pfundtner vermutete Zuschreibungen des Publikums, was ihre Person betrifft, aber auch Selbstzuschreibungen. Es entsteht ein Puzzle der Unmöglichkeit, Ich-Identität zu fixieren. Die Auftragsproduktion fürs Junge Theater Bremen, Ich bin nicht du (2019), ist eine hoch verdichtete Rekapitulation dieser szenischen Mittel, auch wenn Pfundtner dort nicht selbst agiert, sondern Bremer Darsteller die Jonglage der Ich-Aspekte spielen, singen, tanzen und dabei mit Kostümen, Namen, Rollen, Klavier und Urmonsterfell agieren lässt. Spartenleiterin Rebecca Hohmann engagierte Pfundtner, nachdem sie nimmer gesehen hatte: „Ich war begeistert von der Art und Weise, wie Antje Pfundtner auf ihr junges Publikum zuging und es forderte. Ihre Ernsthaftigkeit und der spürbare Wille, die Kinder mit ihrer Kunst zu erreichen, haben mich berührt.“ Viel gemacht hat Antje Pfundtner aus der mehrjährigen Konzeptionsförderung in Hamburg. Zuerst für die kollaborative Entwicklung von Antje Pfundtner in Gesellschaft (APiG). Ein Label, eine Compagnie? „Nein. Ein Kernteam von vier Frauen und weiteren kollaborierenden Gästen“, sagt die künstlerische Leiterin. Neben ihr sind das die Dramaturgin Anne Kersting, Hannah Melder (Produktionsmanagement) und Jana Lüthje (Distribution). Jahrelang konnte Pfundtner ihre Kunst in Ruhe entwickeln, sich für ihre Stücke beispielsweise drei Monate Probezeit nehmen, die ganz schlicht mit Themenfindung und Bücherlesen beginnt, bevor Schritte im Raum die noch fragilen Gedanken in Bewegung setzen. Dank guter Vernetzung können APiG-Produktionen inzwischen zehn- bis zwölf-mal im deutschsprachigen Raum gespielt werden sowie darüber hinaus im Ausland. Die zweite Förderung erhielt Pfundtner für eine Trilogie zum Thema Vergänglichkeit. Derzeit lebt sie vor allem von Geldern des Stadt-Land-Bund-Programms Tanzpakt. Zu ihrem Arbeitsalltag gehören auch Tanzworkshops und -coachings, entsprechende Schul- und Hochschulprojekte. APiG initiiert neben den Bühnenstücken auch Formate künstlerischen Teilens, aktuell die Tischgesellschaften, die überregional erforschen, wie man Ideen und Geld teilt. Als kulturpolitische Aktivistin möchte sie die Grenzen der Solidarität so weiten, damit sich zunehmend weniger an ihnen stoßen. Als Künstlerin erweitert sie uneingeschränkt den Kanon ihres ästhetischen Instrumentariums.