60 Jahre Anwerbeabkommen: Im Theater Bremen thematisieren wir das nicht nur durch Diskussionsveranstaltungen, sondern u.a. auch in Akın Emanuel Şipals Stück „Mutter Vater Land“. Einen anderen Blick auf die Gastarbeiter:innengeschichte wird der Bremer Orhan Çalışır in seinem Film „Die Frauen aus der Schokoladenfabrik“ werfen. Für uns hat er einen Text zum Filmprojekt geschrieben.

 

Es war sehr ungewöhnlich, dass die Frau die Rolle des Mannes, des Familienernährers übernimmt und arbeiten ging. Noch viel ungewöhnlicher war es, dass die Frau oder die Tochter des Hauses in ein fremdes und sehr entferntes Land ging, um zu arbeiten und für die Familie zu sorgen. Es waren die 1960er und die 1970er Jahre. Der Begriff „Internet“ war noch nicht erfunden und ein privater Telefonanschluss war ein Luxus.

Von Alamanya, wie Deutschland im Volksmund heißt, hatten sie im Geschichtsunterricht oder in den Nachrichten gehört.

Mehr wussten sie damals nicht über das Land. Aber es sprach sich rum: „sich für Deutschland eintragen lassen“, das heißt, sich für eine Arbeit in Deutschland bewerben. Auch andere europäische Länder wie die Niederlande, Belgien oder Frankreich warben Arbeiter:innen in der Türkei an, aber nicht so viele. Man sprach von Deutschland, wenn man auch später in Holland in einer Fischfabrik landete. Nicht alle, die sich bewarben, wurden genommen. Auch diejenigen, die Fließbandarbeiten verrichten sollten, wurden genau ausgesucht. Sie mussten sich mehreren ärztlichen Untersuchungen unterziehen. Sie mussten kerngesund sein, kein Zahn durfte fehlen. Obwohl sie alle ganz jung waren, die meisten Anfang 20, hatten sie Angst vor den Untersuchungen.

Nach diesen Untersuchungen machten sich Birnaz, Hayat, Feriha, Dursiye, Halise mit dem Zug, später auch mit dem Flugzeug auf den Weg nach München.

Das ist die Gruppe von Frauen, die zu der Schokoladenfabrik Hachez in Bremen kommen sollte. Am Hauptbahnhof München, wo alle Gastarbeiter:innen aus verschiedenen Ländern ankamen, gab es eine Halle, eine Art Umschlagplatz. Von dort aus wurden sie in die Züge verteilt, die sie in die verschiedenen Städte und Fabriken der BRD brachten. Manche der Frauen waren sehr jung, wie die damals 16-jährige Dursiye Gedikli. Sie hatte die Identität ihrer drei Jahre älteren und verstorbenen Schwester angenommen. Schwer, so etwas in Deutschland zu erklären, wo alles sehr penibel registriert und festgehalten wird. Das Mädchen wollte ihre Familie vor der Armut retten, worunter ihre Eltern und die sieben Geschwister litten. Die meisten Frauen ließen ihre Kinder zurück.

Hayat Demirkapıs Tochter war noch kein Jahr alt, als ihre Mutter am 16. November 1973 in Istanbul ins Flugzeug stieg, um nach Bremen zu kommen.

Um die Kinder kümmerten sich die Großeltern oder die Tanten. Die Frauen leiden heute noch unter dieser Trennung. Das war das Schlimmste, sagt Birnaz Kaya, die 1970 zur Hachez kam. „Wenn sie mir nicht den Pass abgenommen hätten, wäre ich abgehauen und zurückgekehrt. Glaube mir, das hätte ich gemacht, wegen meiner Kinder“, sagt die heute 82-jährige. Die jungen Arbeiterinnen wohnten in Heimen der Firma, die in Bremen-Neustadt verteilt waren. Bei der Firma verdienten sie wenig Geld. Birnaz Kaya bekam 1970 für Akkordarbeit einen Stundenlohn von DM 3,40. „Ohne Überstunden am Samstag bekamen wir rund 90 DM in der Lohntüte pro Woche“, erzählt Feriha Demirtaş aus Istanbul, die seit ihrem 13. Lebensjahr eine Fabrikarbeiterin war. „Nach Feierabend gingen wir zu anderen Firmen zum Putzen, damit wir etwas sparen konnten“, erinnert sich Halise Dilli. Sie mussten sparen, für die Kinder und für die Familie in der Heimat. Und um den Mann und die Kinder nachzuholen, für die Flugtickets, für die Papiere …

Jetzt sind sie alle in Rente.

Manche haben sich kaputt gearbeitet und sind nach vielen Auseinandersetzungen mit den Versicherungsanstalten früher in Rente gegangen. Heute kümmern sie sich um ihre Enkelkinder, geben denen ihre Liebe, die sie den eigenen Kindern nicht geben konnten. Und sie leben halb in Bremen und halb in der Türkei. Mittlerweile haben sie zwei Heimatländer. Es geht darum, die Geschichte dieser Frauen so authentisch wie möglich zu erzählen. Am besten denen die Möglichkeit geben, dass sie ihre Geschichten uns erzählen können. Jenseits des Integrationsdiskurses, der diese Menschen von vornherein zu Personen degradiert, die im besten Fall einen Zivilisationsnachholbedarf haben.

 

Veröffentlichung: 01.10.2021