Im Garten der Italienerin

Dramaturgin Brigitte Heusinger unterhält sich mit der Dirigentin Alice Meregaglia und dem Regisseur Josef Zschornack.

Alice Meregalia (die Italienerin ist): Wäre die Italienerin doch in Italien geblieben.

Brigitte Heusinger: Aber jetzt ist sie in Bremen. Und dirigiert Rossini. Welche Stichworte kommen dir in den Sinn, wenn du an deinen Landsmann Rossini denkst?

Alice Meregaglia: Energie, Artikulation, Leben, Positivität, gute Laune, eine sehr kluge Ironie, Theater, Plastizität.

Und was fällt dir zur Italienerin ein?

Alice Meregaglia: Von außen mag die Oper wie eine leicht oberflächliche „Türkeria“ in der Orientalismus-Mode des beginnenden 19. Jahrhunderts wirken, aber sie ist in ihrer konsequenten Dramaturgie eines der besten Stücke von Rossini. Rossini verwertete sein Material sehr ökonomisch. Er hat viele musikalische Nummern immer und immer wieder und in unterschiedlichen Opern verwendet und zitiert. Auch in der Italiana steckt vorhandenes Material. Trotzdem stehen hier die Melodien, die Motive in ganz besonders enger Verbindung zu den theatralischen Vorgängen. Rossini hat also direkt auf die Szene komponiert. Nichts ist unlogisch, nichts klingt dramaturgisch falsch.

Josef, was sind die Regie-Themen?

Josef Zschornack: Es geht um Machtstrukturen und die Verhältnisse zwischen den einzelnen Figuren: Wer hat die Oberhand über die Situation? Mustafà ist zu Beginn der Chef vom Ganzen, doch jetzt kommt Isabella und macht ihm seinen Rang streitig.

Das Libretto strotzt vor Macho-Sprüchen und schiebt Mitgliedern einer anderen Kultur fragwürdige Eigenschaften unter. Das Fatale ist, dass die Typologie der Figuren aus der Commedia dell´arte stammt und die Handlung jetzt in den Orient verlegt wird. Aus dem mächtigen, aber dümmlichen, alten, italienischen Pantalone wird jetzt ein Bey, ein Sultan. Die Komponisten und Librettisten waren natürlich eher an Gesellschaftskritik vor Ort interessiert und verkleideten ihre Herrscher eben gerne in Kaftane, damit sie die Zensur umgehen konnten, aber das ist aus heutiger Sicht natürlich fatal: ein tollpatschiger orientalischer Herrscher, der sexistische Sprüche ablässt

Josef Zschornack: Natürlich spielt das Original in Algier, aber, wie du sagst, sollte es damals ja schon Probleme bei uns thematisieren. Heute kann man das direkt ansprechen, so haben wir jetzt die Möglichkeit, den Ort, der inhaltlich total beliebig ist, zu verlegen. In der Bremer Italiana gibt es weder eine aus Italien Kommende, noch gibt es Algerien. Und es gibt keine Frau, die die behauptete Macht irgendeines Mannes hinnimmt. Worte, die zu keiner Zeit erträglich hätten sein sollen, wurden in unserer Fassung gestrichen und ersetzt. Und so ist Mustafà jetzt im Park Kioskbesitzer mit einer Schar von Männern und Untergebenen, die drum herum abhängen. Seine Herkunft spielt keine Rolle.

Dass es vor allem Männer sind, die bei Mustafà zuhause sind, hatte übrigens theaterpraktische Gründe. Das Uraufführungstheater Teatro San Benedetto in Venedig hatte nur einen Männerchor zur Verfügung. Doch es gibt dann doch drei Frauen: die Hauptheldin Isabella, Elvira, die Ehefrau, und Zulma, ihre Bedienstete. Librettogemäß liebt Elvira Mustafà bis zum Schluss, obwohl er sie schlecht behandelt und eigentlich nur loswerden will.

Josef Zschornack: Ja, bei Elvira war es unser Ziel, die Figur näher zu betrachten und nach einer anderen Farbe zu suchen. Die vernachlässigte und untertänige Ehefrau, die alles für ihren Gatten zu tun bereit ist, dieses Rollenbild wollten wir nicht reproduzieren. Zudem wäre sie dann auch eine zu schnell und zu einfach zu durchschauende Figur. Wir wollen, dass sie von Anfang an selber auf dem Absprung ist. Am Schluss lassen wir sie zur Siegerin werden, was das Finanzielle angeht. Denn die Italienerin hat Mustafà in einem Ablenkungsmanöver einen Vertrag untergeschoben, einen Vertrag, in welchem er Elvira quasi aus Versehen seinen Kiosk überlässt.

Ihr habt auch kleine Retuschen am Text vornehmen müssen.

Josef Zschornack: Das ist kein Muss, das ist unser Anliegen. In unserer Inszenierung wollen wir versuchen, möglichst auf Stigmatisierungen und Verletzungen zu verzichten. Das dürfte ja zu keiner Zeit richtig gewesen sein, ist heute aber, meiner Meinung nach, auf keinen Fall angebracht.

Alice Meregaglia: Ja, es gibt in der Taddeo-Arie den Einwurf des Chores: „Kaimakan, Protettor de Mussulman“. Und da habe ich meinen Vater angerufen und ihn gefragt: „Sag mal, welches alkoholische Getränk reimt sich auf Kaimakan“. (Kaimakan ist die Bezeichnung für einen Fantasieorden, der Taddeo verliehen wird.) Meine Bildung ist auf dem Gebiet eingeschränkt, denn ich trinke vorwiegend Tee und keinen Tropfen Wein. Spontan hat er geantwortet: „Borducan!“ Das ist ein Likör aus Varese, fünfzehn Minuten von meinem Heimatort entfernt. Und jetzt wird Taddeo nicht mehr zum Beschützer der „Muselmanen“ (ein Wort, das wir vermeiden wollten), sondern eben eines sehr raffinierten Alkohols.

Sind die handelnden Figuren eigentlich wirklich echte Charaktere, Menschen wie du und ich?

Josef Zschornack: Was einem sofort auffällt, ist, dass die Figuren in allen Konflikten vor allem eher um sich selbst kreisen. Wenn sie ins Gespräch kommen, sind sie nicht bestrebt, eine Situation miteinander zu lösen, sondern nur für sich selbst.

Alice Meregaglia: Aber es gibt durchaus echte Gefühle. Die erste Cavatine von Lindoro beispielsweise ist ein Liebeslied. Es lässt sich immer sofort in der Musik erkennen, ob die gezeigten Emotionen wirklich existieren oder nur gespielt sind. Echte Gefühle klingen wie eine Welle, wie ein an- und abschwellendes Andante, Gefühle, die nur vorgespielt sind, kommen gerne mit Pizzicato-Begleitung vorbei und haben einen trockenen Ton. Die Seelen werden hier musikalisch leer gelassen.

Doch oft schnurren die Emotionen und Konflikte der Figuren regelrecht ab, die Menschen sind wie Rädchen im Getriebe, eingesperrt in eine Musik, die wie ein überdrehtes Uhrwerk ständig den Takt vorgibt, aus dem scheinbar niemand ausbrechen kann.

Alice Meregaglia: Dieser Eindruck dieses Vorwärtstreibens, dieser tickenden Uhr, wird vor allem durch die Artikulation erzeugt, durch die exakte und überaus schnelle und gegliederte Aussprache der italienischen Silben. Doch so sehr wir hier Rhythmus und Tempo erzeugen müssen, wir müssen auch horizontal denken und eine musikalische Linie – nein, mehr eine Welle – anstreben. Wenn die Artikulation übertrieben ist, fallen wir in die „Vertikalität“ und die Linie wirkt geklebt wie ein Stottern. Dann ist auch die Betonung der italienischen Sprache nicht richtig, die ja immer ganz melodisch ist. Wenn wir uns wiederum vorwiegend um die Welle kümmern und die vielen Kleinigkeiten, die analytischen, vertikalen Stilmittel vernachlässigen, die hinter und unter der Welle liegen, wird die Linie flach.

Was du vor allem schaffen möchtest, ist eine theatralische Musik.

Alice Meregaglia: Ja, eine Theatermusik mit nicht nur vier, sondern mindestens fünfzehn Händen. Der König von allem muss das Theater sein. Ich versuche mich immer daran zu orientierten, wie lang die Sätze sind. Ist der Satz lang, darf das Tempo nicht langsam sein. Sonst verwirre ich mich in ihm. Ein Andante, in dem eine Person nervös und unruhig ist, braucht eine bestimmte Artikulation und ein gewisses Tempo. Ein Andante in einem romantischen Moment kann entschieden getragener sein. Wichtig ist immer der Zusammenhang: Was passiert in der Szene und in welcher psychologischen Verfassung sind die Figuren.   

Die Pandemie verlangt einen kurzen Abend, so um die anderthalb Stunden. Ihr habt euch zu einer radikalen Lösung entschieden und alle Rezitative, also die Teile, in denen die Handlung erzählt und vorangetrieben wird, sind gestrichen.

Alice Meregaglia: Die Rezitative sind schön, aber sie sind nicht original von Rossini. Er selber hat mit der Ausnahme von „Scala di seta“ das Komponieren der Rezitative anderen überlassen.

Josef Zschornack: Wir haben die Schwierigkeit, dass eine große Nummer so die nächste große Nummer jagt. Und die Gespräche zwischen den Menschen ausfallen. Ein Großteil des Stoffs muss in einer kürzeren Zeit verhandelt werden, wodurch eine starke Raffung entsteht, trotzdem haben wir aber eine komplette Geschichte.

Alice Meregaglia: Für mich ist ein kleines Problem, dass jede Nummer mit einem Tata! beginnt, also mit einem Weckruf. In der Entstehungszeit haben die Menschen während der Aufführungen gegessen und geredet und wurden immer am Anfang der musikalischen Nummern aufgefordert zuzuhören. Und jetzt hören alle zu (hoffentlich zumindest!) und trotzdem klingelt vor jeder Arie erstmal der Wecker.

Was bedeutet es für euch, draußen zu spielen und zu musizieren?

Josef Zschornack: Das ist ja das Spannende an unserer Fassung, dass wir ganz transparent damit umgehen. Wir haben ein lebendiges Umfeld, die Bäume bewegen sich im Wind und manchmal fährt auch ein Rettungswagen vorbei. Verstecken können wir uns draußen nicht. Wir können nicht wie im Theater, Menschen aus dem Nichts auftreten lassen. Alle sind einfach da. Das ist eine große Herausforderung für uns – und gleichzeitig eine große Qualität, weil alles so offen liegt. Der Humor, der im Originallibretto darüber hergestellt wird, dass man sich über das Fremde lustig macht, läuft ins Leere. In unserer Fassung schauen wir ein wenig selbst in den Spiegel und sehen uns: Das ist manchmal auch lustig, gerade weil wir uns oft selbst so ernst nehmen.

Alice Meregaglia: Für mich bedeutet draußen sein, vor allem mit der Natur mit zu gehen. Ich hoffe, dass wir eine Fusion mit der Natur finden, dass wir ein Teil von ihr werden und sich alle fremden Geräusche in die Musik einfügen.