„Die meiste Gewalt passiert im sozialen Nahbereich“
Was sind die tiefliegenden Gründe für die Gewalt gegen Frauen und wie können Menschen in Bremen aktiv werden? Dramaturgin Frederike Krüger im Gespräch mit zwei Aktivistinnen* des Netzwerks gegen patriarchale Gewalt Stoppt Femizide Bremen.
Frederike Krüger: Die Instagram-Seite femizide_stoppen hat über 60.000 Follower:innen, seit der Gründung 2022 gab es immer mehr Aktivist:innen, die entsprechende Seiten für ihre Städte gegründet haben. So etwa auch stoppt_femizide_bremen. Ihr klärt über die unterschiedlichen systemischen wie sozialen Ursachen und Formen patriarchaler Gewalt auf. Was war der Anlass dafür, solche Seiten zu gründen?
Christiane1: Der Hauptgedanke war, dass wir in Bremen ein Anti-Femizid-Netzwerk gründen. Soziale Netzwerke gehören dazu, um Aufmerksamkeit zu schaffen.
Isi: Unsere Intention ist es, Aktionen und Öffentlichkeitsarbeit gegen Femizide zu machen. Die Instagram-Seite femizide_stoppen ist überregional aktiv, sie machen vor allem die Anzahl von Femiziden sichtbar. Wir sind regional in Bremen vernetzt, eine Gruppe von meist linken Feminist:innen, vor allem FLINTA*, die auch auf die Straße gehen, wenn ein weiterer Femizid passiert.
Was Bedeutet der Begriff Femizid und warum ist es wichtig, nicht mehr von „Beziehungstat“ oder „Familientragödie“ zu sprechen?
Christiane: Der Begriff Femizid beschreibt die Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts. Er macht deutlich, dass Femizide nichts Privates und keine Einzelfälle, sondern strukturell bedingt sind. Es ist die extremste Form geschlechtsspezifischer Gewalt.
Was führt zu diesen Taten?
Isi: Frauen und Queers fügen sich nicht in die Rollen, die ihnen in dem patriarchalen System, in dem wir leben, zugeschrieben werden. Sie wollen keine Rollen-Klischees mehr erfüllen und brechen aus einem System aus, das sie privat wie politisch unterdrückt.
Die Täter sind meistens Partner oder Ex-Partner, in 80 Prozent der Fälle sind die Täter männlich. Gibt es einen bestimmten Tätertyp?
Christiane: Nein, es gibt keinen bestimmten Tätertyp. Patriarchale Gewalt zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten. FLINTA* werden von cis Männern umgebracht, deren Rollenbildern und Besitzansprüchen sie sich nicht oder nicht mehr unterwerfen wollen. Die meiste Gewalt passiert im sozialen Nahbereich. Das kann der Partner oder Ex-Partner sein, aber auch Brüder oder Väter.
Es gibt eine Pyramide der Gewalt, die ich bei unterschiedlichen feministischen Netzwerken gesehen habe. Auf der untersten Stufe stehen sexistische Witze, frauenfeindliche Sprache, fehlender Gewaltschutz, auf der zweiten Stufe unter anderem strukturelle Gewalt, Sexismus, noch weiter oben verbale Gewalt, sexuelle Belästigung und Hass im Netz, auf der zweithöchsten Stufe Vergewaltigung und Rape Culture, die Spitze der Pyramide ist der Femizid.
Christiane: Gewalt gegen Frauen und weiblich gelesene Personen hat System. Diese systemischen und strukturellen Probleme müssen benannt und geändert werden, um Femizide zu verhindern.
Isi: Ursache ist immer das Patriarchat, das sich auf allen Ebenen niederschlägt. Jede gesellschaftliche Struktur ist irgendwie patriarchal ausgestaltet und begünstigt dadurch Femizide. Diana Russel, die den Begriff Femizid 1976 bei dem Internationalen Tribunal gegen Gewalt an Frauen eingeführt hat, wollte damit herausstellen, dass ein Großteil von Frauentötungen im Kontext von Machtdynamiken, Sexismus und Misogynie patriarchal-strukturierter Gesellschaften stattfindet.
Christiane: Das fängt bei der unterschiedlichen Sozialisierung von Kindern an, die bereits in ihren Familien, in der Schule bestimmte Geschlechterbilder verinnerlichen und damit wie selbstverständlich in diese Strukturen hineinwachsen.
Isi: Gewalt kann viele Formen annehmen, so gibt es auch ökonomische Gewalt beispielsweise in Form von ökonomischer Abhängigkeit, sodass FLINTA* überdurchschnittlich oft institutionell und strukturell benachteiligt sind. Die Gewalt an ihnen ist strukturell begünstigt, wenn sie beispielsweise keine neue Wohnung finden, es zu wenig Plätze in Frauenhäusern gibt oder sie diese selbst bezahlen müssen. Und für TIAN*-Personen (TIAN* bedeutet trans*Personen, Inter*Personen, Non-Binary*Personen und Agender*Personen, Anm. d. Red.) gibt es noch weniger Anlaufstellen. Es gibt oftmals eine lange Gewaltgeschichte, bevor ein Femizid passiert, der durch andere Rahmenbedingungen möglicherweise verhindert werden könnte.
Christiane: Und wenn die Person sich dann aus der Abhängigkeit befreien will, dann kommt es meist zum Femizid. Weil sie damit dem Besitzanspruch, den cis Männer auf Frauen haben, nicht mehr entsprechen wollen.
Isi: Das sind strukturelle Probleme, die gelöst werden könnten, beispielsweise auch mit der Durchsetzung der Istanbul-Konvention, die es ja bereits seit 2018 gibt.
Christiane: Das Gewaltschutzgesetz sollte ja jetzt auch ins Kabinett kommen und diskutiert werden. Das wird jetzt wohl erstmal nicht passieren. Das bedeutet, dass Schutzräume und Beratungsstellen weiterhin nicht ausreichend finanziert sind.
Isi: Und das, obwohl gerade diese Woche das Lagebild Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten vorgestellt wurde. Danach wurden 2023 360 Frauen und Mädchen von cis Männern ermordet und die Dunkelziffer liegt vermutlich noch höher. Das ist fast jeden Tag ein Femizid. Dagegen müssen wir aktiv werden – und zwar alle.
Adressiert wird die Thematik vor allem von FLINTA*-Personen. Wie könnte ein Appell an cis Männer lauten?
Isi: Ich würde da gerne eine Frage stellen: In was für einer Gesellschaft wollen wir denn leben? Und fühlen wir uns gemeinschaftlich dafür verantwortlich, dass sich alle Menschen in dieser Gesellschaft sicher fühlen können? Im Moment würde ich „nein“ sagen.
Christiane: Ich fände es ja toll, wenn sich mehr cis Männer am feministischen Diskurs beteiligen würden und das nicht immer als Frauen- und „Emanzen“-Ding abtäten. Dass sie ihren Kumpels zum Beispiel auch mal direkt ins Gesicht sagen, wenn die sich misogyn und gewaltvoll verhalten. Wenn sie sexistische Witze nicht relativieren oder Entschuldigungen für das Verhalten anderer Männer finden würden. Ich erwarte schon von Männern, dass sie selbst aktiv werden.
Isi: Selbst kein Täter zu sein ist das Minimalkriterium, auf dem sich viele cis Männer ausruhen. Es wäre schön, wenn sie dann noch ein paar Schritte weiterdenken würden. Dass sich diese Männer öffentlich hinstellen und positionieren und sagen, was sie von anderen Männern fordern und dass sie gegen Femizide und patriarchale Gewalt sind.
Christiane: Ja, Männer. Informiert euch, werdet aktiv. Und zeigt euch solidarisch.
Wie können Menschen in Bremen aktiv werden?
Isi: Es gibt in Bremen unterschiedliche Gruppen und Netzwerke, wo sich Menschen treffen, um gegen verschiedene Formen von Gewalt aktiv zu werden. Uns erreicht man beispielsweise über die Instagram-Seite oder per Mail. Und gemeinsam mit dem Feministischen Streik Bremen laden wir herzlich zu einem Aktionstag gegen patriarchale Gewalt am 24. November auf der Waller Mitte ein. Kommt gern vorbei um euch zu vernetzen, auszutauschen und aktiv zu werden.
1 Ihre Nachnamen möchten die beiden Aktivistinnen* nicht öffentlich nennen.
Veröffentlicht am 22. November 2024