Die Utopie der Gemeinsamkeit

Ein Text von Bengt Beutler, Professor für Öffentliches Recht im Ruhestand an der Universität Bremen zum Tod von Michael Börgerding.

Eine der vielen und nur scheinbar selbstverständlichen Fähigkeiten von Michael Börgerding war die, etwas sprachlich in wenigen Worten auf den Punkt bringen zu können – für mich beispielhaft seine einführenden Worte auf den Premierenfeiern: nach der freundlichen Bitte, den Feier-Geräusch-Pegel auf ein verständigungskompatibles Maß zu dimmen zwei, drei Sätze zum Stück und seiner Inszenierung, die die Utopie der Gemeinsamkeit bei allen Unterschieden der Beteiligten für einen Augenblick Wirklichkeit werden ließen – zusammen mit der anschließenden bei allen Schlenkern im persönlichen Würdigung aller an der Produktion Beteiligten – und  einschließlich des Publikums, unbeschadet der Vielfalt seiner kontroverser Meinungen.

Diese Utopie durchzog alle Gespräche mit Michael Börgerding. Sie nährte sich nicht aus dem  Theaterbetrieb, den er wie kein zweiter kannte, sondern aus dem ständigen Nachdenken über die Beziehung von Theater und Gesellschaft und ihrer Verschränkung im wechselseitigen Rollenspiel und gleichwohl der Möglichkeit einer Selbstfindung jenseits des gegenwärtig oft bedrückenden Mainstreams diesseitiger Selbstoptimierung. Theater war für ihn der mögliche Raum einer diesen Mainstream transzendierenden Gesellschaft als Stadtgesellschaft und zugleich ihr Entwicklungsmoment.

Für die Nähe von Kirche und Theater in dieser Perspektive hat John von Düffel auf der Bremer Trauerfeier bewegende Worte gefunden. Beide sind ja im besten Fall ein Raum für die Offenheit eines Rollenspiels, in dessen vielfältige Facetten wir alle eingebunden sind und umso freier, je weniger wir uns durch konventionelle und institutionelle Regeln fremd bestimmen lassen, sondern sie durch den Wunsch bewusster Gemeinsamkeit bei aller individueller Unterschiedlichkeit transzendieren. Die vielen, aber jetzt rückblickend viel zu wenigen Gespräche mit Michael Börgerding kreisten früher oder später um diese – mag es auch philosophisch klingen – Essenz des Theaters jenseits des Theaterbetriebs, dessen Bezugspunkt für ihn ganz praktisch ein Ensembletheater und in dem ihm kein Anlass zu gering war, sich für das Wohlergehen jedes und jeder einzelnen einzusetzen.

Die kunstvolle Moderation – wie auch die Beharrlichkeit – solchen Miteinanders entsprach nicht dem herkömmlichen Bild eines noch von seinen Vorgängern geprägten Intendantentheaters. Dem öffentlichen Granteln eines verdienstvollen Vorgängers über das gegenwärtige Dramaturgentheater entgegnete Michael Börgerding bei dessen Trauerfeier mit der Bemerkung, dass die Zeit eines heroischen Theaters vorbei sei. Und der Auseinandersetzung mit dem Übervater Kurt Hübner begegnete er schon zu Beginn seiner  Intendanz mit der Anregung einer Inszenierung zu dem Thema „War da was?“, in der die Wahrnehmung von Zeitzeugen der Hübner Ära und der Gegenwart sich zu der Aufforderung mischten, sich ein eigenes Urteil zu bilden. War da was in der Ära Börgerding?

Auf die Frage, was es für ihn außer dem Theater noch gebe, erzählte er von den Freuden des Rudertrainings mit dem Blick auf die sich ständig wandelnde Wasseroberfläche. Jetzt ist er plötzlich selbst davongerudert – wohin, können wir nicht wissen und nur glauben. Aber in einer Zeit der Infragestellung fast aller humaner Selbstverständlichkeiten hinterlässt er uns nicht nur die schmerzhafte Lücke, sondern auch das Vorbild eines Menschen, der um die Höhen und Tiefen des Rollenspiels jedes einzelnen von uns wusste, aber daran glaubte, gemeinsam daraus Gutes schaffen zu können, und der die Menschen dafür liebte. Was für ein Mensch.