Eine Tat, ihre Folgen und die Frage nach den Rollen
Ikram Errahmouni-Rimi ist Juristin und Lehrbeauftragte für Antidiskriminierung und Hasskriminalität. Ein Gastbeitrag.
Heute jährt sich das Attentat in Hanau. Heute jährt sich der Schock, der Schmerz, die Sehnsucht, das Leid. Es jährt sich jene Nacht, die neun Familien ihre Angehörigen nahm und mit ihnen all das in diesem Land möglich zu machen Geglaubte. Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kenan Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoglu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov leben nicht mehr. Sie starben am 19.02.2020 durch die Schüsse eines Rassisten. Und doch werden sie immer eine Rolle spielen.
Bei dem Versuch diese schreckliche Tat einzuordnen, wird schnell die Frage nach „dem Motiv“ gestellt.
Die mediale Darstellung reicht von der völlig unvermittelten Einzeltat einer psychisch kranken Person bis hin zu einer bereits durch Vorzeichen erwartbaren Tat eines sich in legalem Waffenbesitz befindenden soziopathischen Rassisten. Überhaupt befassen sich mediale Akteur*innen im Nachgang vieler solcher Taten insbesondere mit der Verfasstheit und Biografie der Täter*innen. Die Perspektive der Opfer und Betroffenen bleibt oft ungehört. Dank zahlreicher Initiativen und aktivistischer Bündnisse sowie sensibilisierten Medienschaffenden kommen nach dem Attentat in Hanau viele Familien und Angehörige zu Wort und finden bei ihrer Trauer Gehör. Die Herstellung eines größeren gesellschaftlichen und systematischen Zusammenhangs steht allerdings häufig aus. Doch gerade dieser spielt eine Rolle.
Hasskriminalität: die Rolle der Identität bei Verbrechen
Anders als in den USA, wo hate oder bias crime als Kriminalitätskonzept bereits seit den späten 1980er Jahren bekannt ist, ist der Begriff Hasskriminalität und die dahinter liegende Deliktskategorie in Deutschland noch jung. Anders, als es das Wort „Hass“ in dem Begriff vermuten lässt, geht es in der Regel nicht um das subjektive Gefühl von Hass der Täter*innen gegenüber der Opfer. Es geht nicht um Hass auf Basis individueller Eigenschaften von Personen, wie das etwa der Fall wäre, wenn Person A Person B hasst, weil Person B eine unhöfliche Person ist, die nie grüßt, wenn man sich im Treppenhaus begegnet. Es geht vielmehr um Straftaten, die vorurteilsgeleitet sind. Hierbei entwickeln sich Vorurteile auf Basis unveränderbarer, identitätsstiftender Merkmale gegenüber konstruierten Gruppen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, wie Rassismus, Sexismus, Homo- oder Transfeindlichkeit, Behindertenfeindlichkeit, Antisemitismus oder antimuslimischen Rassismus. Infolgedessen richten sich diese Taten nicht unmittelbar an die zum Opfer Gewordenen.
Vielmehr richten sie sich in völlig willkürlicher Weise stellvertretend an die gesamte soziale Gruppe.
Es ist wichtig die Botschaft hinter solchen Taten zu verstehen. Denn sie spielt eine entscheidende Rolle: Sie lautet: „Es kann euch überall und jederzeit treffen. Ihr seid nirgendwo sicher. Nicht beim Freitagsgebet in der Moschee, nicht an Jom Kippur in der Synagoge und auch nicht in der Shisha-Bar.“ Diese Form der Kriminalität sorgt dafür, dass sich bedroht gefühlte Menschen Vermeidungsstrategien wählen. Oft suchen sie für sie wichtige und identitätsstiftende Orte nicht auf, werden depressiv und erleiden Angstzustände. Das ist verfassungsrechtlich deshalb von enormer Bedeutung, weil das für viele Menschen Einschränkungen in wesentliche Grundrechte, zum Beispiel in das Grundrecht auf freie Religionsausübung und die Bewegungsfreiheit (Freiheit der Person), bedeutet. Hasskriminalität ist also auch immer ein Angriff auf die Demokratie.
Die wohl wichtigste Rolle: das Reflektieren und Anerkennen von Perspektiven
In Zeiten einer weltweit grassierenden Pandemie und einer insgesamt komplexen und herausfordernden Phase erleben wir in dieser Gesellschaft viele Probleme und Herausforderungen in gleichem Maße. Dann aber gibt es Lebensrealitäten, die uns unterschiedlich treffen und auch unterschiedlich betroffen machen. Das zeigt sich nicht nur darin, dass vor einem Jahr in Hanau Menschen trauerten, als andere Karneval feierten. Es zeigt sich auch in der lückenhaften Dokumentation von Fällen rassistisch motivierter Straftaten auf der einen Seite (das BKA für das Jahr 2018 1.078 vorurteilsmotivierte Gewalttaten für das gesamte Bundesgebiet. Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. (VBRG) hat für dasselbe Jahr allein für die Region Berlin und die ostdeutschen Bundesländer 1.212 Fälle politisch rechts, rassistisch und antisemitisch motivierter Gewalt registriert) und der Akribie in Sachen Durchsuchungen und der damit einhergehenden medialen Stigmatisierung von Shisha-Bars und ähnlichen Orten auf der anderen Seite, die solchen Taten den Nährboden geben.
Heute und an allen anderen Tagen ist das Anerkennen der Trauer um die verstorbenen Menschen und ihrer Lebensrealitäten so wichtig wie das Hinterfragen gesellschaftlicher Zusammenhänge und des eigenen Wirkungskreises.
In dem komplexen Geflecht kausaler Zusammenhänge von Vorurteilen, Diskriminierung und der Sichtbarmachung von Perspektiven ist eine Frage ganz wichtig: Welche Rolle(n) spielen wir in diesem Geflecht? Wir als (professionelle) Personen, als Institutionen und als Organisationen. Und in diesem Zusammenhang auch: Welche Rolle(n) wollen wir künftig spielen? Vielleicht oder ganz sicher passen diese Fragen auch an einem Ort, wie das Theater.