Eingesperrt in der Ziehharmonika
Wie ein Raum zum Liebeslabyrinth wird, erklärt Lennart Hantke.
So kitschig es auch klingen mag, aber: „Lieben ist nur der Versuch, einen Weg durch das Labyrinth des Lebens zu finden. Hat man es nie versucht, verläuft man sich in der Einsamkeit“, sagt zumindest der Pilgerwegbereiter Vianova. Bei uns am Theater Bremen begibt sich Frank Hilbrichs Interpretation von Der Rosenkavalier gewissermaßen auf ähnliche Fährten wie der Pilgerratgeber – und widerspricht ihm gleichermaßen.
Nun ist Der Rosenkavalier von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal nicht gerade dafür bekannt, besonders fromme, religiöse Ansätze zu bedienen. Manch einer würde diese Komödie für Musik in drei Aufzügen vielleicht auf die Romantisierung des Rokoko, und somit auf einen Abgesang einer längst vergangenen Epoche, herunterbrechen. Es ist in jedem Fall ein wahrhaft opulentes Werk: Weit über vierzig Rollen verzeichnet das Libretto dieser durch und durch zerfaserten Standes- und Liebesgeschichte(n), die man alleine schon benötigt, um die hierarchischen Strukturen der erzählten Zeit darzustellen.
An der Bayerischen Staatsoper stand die Inszenierung des Rosenkavaliers von Otto Schenk mehr als vierzig Jahre auf dem Spielplan. Jürgen Rose entwarf legendäre Bühnenräume, die in jeder Vorstellung für Staunen sorgten: Bis ins kleinste Detail ausgestattete, hyperrealistische Rokoko-Palais-Nachbauten mit handbemalten Kopien von kostbarem Porzellan in den Vitrinen, sorgten für eine pittoreske Abbildung dieser längst vergangenen Zeiten.
Generalmusikdirektor Yoel Gamzou, Regisseur Frank Hilbrich und sein Team haben für die Bremer Neuinszenierung einen anderen Weg eingeschlagen.
Nun ist es im Theater so, dass mit der Neuansetzung eines Stückes zuerst ein leeres Blatt Papier mit dem Titel eines Werkes auf dem Tisch liegt. Die Theaterleitung macht sich Gedanken, welches Team mit der Inszenierung eines Stoffes beauftragt wird; in diesem Fall fiel die Wahl auf den Regisseur Frank Hilbrich, den Bühnenbildner Sebastian Hannak und die Kostümbildnerin Gabriele Rupprecht. Was nach der Setzung eines Teams passiert ist ein intensiver Prozess, der sich in völlig verschiedene Richtungen entwickeln kann. Man hat eine leere Bühne, eine Liste von Sänger*innen, die spezifische Rollen singen werden, und wieder ein leeres Blatt Papier. In diesem Fall ist das Blatt Papier aber bereits zur Hälfte beschrieben. Man hat das Werk des Komponisten und des Librettisten vor sich liegen, das als Fundament und Gerüst für alles Kommende dient: den Klavierauszug und das Libretto.
Das Team macht sich auf die Suche nach dem Kern des Stückes.
In intensiver Vorarbeit beginnt nun das Lesen des Stückes, die Analyse der Musik, die Recherche, das Studieren von Sekundärliteratur und Briefwechseln, die Auseinandersetzung mit der umfangreichen Rezeptionsgeschichte – und natürlich fallen die Entscheidungen eines Regieteams auch immer auf dem Hintergrund ganz persönlicher Erfahrungen und Interessen. In unserem Fall fiel die Wahl auf eine Bündelung, eine Konzentration auf das Kernpersonal und die archaischen Katalysatoren der Liebe und der Vergänglichkeit. Das ein Raum wie im Münchener Rosenkavalier von Jürgen Rose für diese Erzählweise hier nicht greift, zeigt der Begriff des Brennglases: Das Team, inklusive Generalmusikdirektor Yoel Gamzou, hat sich dafür entschieden, eine Lupe an die Geschichte zu halten und die innere Zustände der Figuren sichtbarer zu machen und zu vergrößern. So, wie Yoel Gamzou mit seiner musikalischen Interpretation die psychologischen Faktoren als charakterlich bewegende Seelenspiegel aus den Musiker*innen herauslockt, so macht sich auch Bühnenbildner Sebastian Hannak auf die Suche nach einer räumlichen Vision und Umsetzung dieses Konzeptes. Es ist abstrakter Raumapparat entstanden, der sich fokussieren und weitwinkelig öffnen kann – und das ist vor allem: eine technische Herausforderung. Unsere Technische Direktion und Konstruktionsabteilung hatten alle Hände voll zu tun, ab dem Moment, als sie zum ersten Mal das kleine Bühnenbildmodell zum spektakulären Raumentwurf sahen.
Im Bühnenbildmodell ist die technische Umsetzung recht einfach.
Sebastian Hannak setzt eine Art Camera-Obscura-Setzkasten auf die Bühne, der aus vielen einzelnen, ineinander gesteckten Räumen besteht, welche sich ziehharmonikaartig in die Tiefe ziehen, als auch auf kleinsten Raum zusammenschieben lassen. Im Bühnenbildmodell ist die technische Umsetzung recht einfach. Im Maßstab 1:33 lassen sich die einzelnen Segmente mit den Fingern leicht entzerren und verschieben. Aber wie soll das funktionieren, wenn die einzelnen Elemente statt wenige Zentimeter nun mehrere Meter groß sind und mehrere hundert Kilo wiegen? Diese Frage richtet sich an unsere technischen Gewerke – und sie haben die Antworten in der physikalischen Kraftumlenkung gefunden. Mit Hilfe von Umlenkrollen werden die Raumkästen mit Seilen an den Zugstangen nach hinten und somit in die Tiefe gezogen. Für den gegenteiligen Effekt werden die Seile losgelassen und ein sehr kleines, aber sehr starkes Bühnenfahrzeug schiebt die Räume wieder zusammen, manuell geführt und unterstützt von der technischen Mannschaft. Die Herausforderung an den Raum war immens groß, da er zusammengeschoben keinerlei Lücken aufweisen soll, aber dennoch magisch und ruckelfrei fahren soll.
Das Vergehen der Zeit mit allen Konsequenzen steht im Zentrum
Die Feldmarschallin singt im ersten Akt: „Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie.“ Das Vergehen der Zeit mit allen Konsequenzen steht im Zentrum, und so erlebt man nun einen Rosenkavalier, bei dem nicht das wahrnehmbare Vergehen der Zeit die Sängerinnen und Sänger in neue labyrinthartige innere, wie äußere Zustände einhüllt. Stattdessen sind es die psychologischen Verkettungen der einzelnen Figuren, die madig schleichend einen Weg finden, ihnen Wege zu verschließen oder gar neue Wege zu öffnen.
Zurück zum Pilger-Kalenderspruch: „Lieben ist nur der Versuch, einen Weg durch das Labyrinth des Lebens zu finden. Hat man es nie versucht, verläuft man sich in der Einsamkeit.“ – Ob allein der Versuch zu lieben vor der Einsamkeit bewahrt, oder ob eine gewählte Einsamkeit nicht erfüllender sein kann, können Sie noch bis März mit Der Rosenkavalier bei uns erleben.