Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu sein

Henning Bleyl von der Heinrich-Böll-Stiftung Bremen und Simone Sterr sprechen über die traurige Aktualität ihrer gemeinsamen Reihe Nach den Rechten sehen und über die dringende Notwendigkeit, demokratische Grundsätze gegen völkisch-nationale Angriffe zu verteidigen.

Wir treffen uns am Tag des Wahldebakels von Thüringen. Eine bürgerlich-liberale Partei hat sich die Steigbügel zur Macht von einer rechtspopulistischen Partei halten lassen, an deren Spitze ein Faschist steht. Wir sind schockiert. Dass knapp zwei Wochen später zehn Menschen aus Hanau Opfer eines rassistischen Terroranschlages werden, gibt diesem Gespräch im Nachhinein einen bitteren Beigeschmack: von Tag zu Tag steigt die Dringlichkeit, sich mit rechtem Denken und rechtsextremistischer Gewalt auseinanderzusetzen.

Ganz im Sinne von Heinrich Böll, der die Geschichte des zweiten Weltkriegs, des Völkermordes, seine Erfahrung, als Soldat Teil des NS-Systems gewesen zu sein sehr genau reflektiert hat und sehr überlegt sein Gewicht, das er als Schriftsteller und öffentlicher Intellektueller hatte, eingesetzt hat. Seinen Satz „Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu sein“ sieht Henning Bleyl als Aufforderung, die Stimme im öffentlichen Diskurs zur Verteidigung der Demokratie laut zu erheben. Der Kulturwissenschaftler und Kulturjournalist (15 Jahre schrieb er für die taz, darunter auch etliche Kritiken über das Theater Bremen) kam übers Schreiben zum Reden und arbeitet seit drei Jahren für die Bremer Heinrich-Böll-Stiftung.

Das System der parteinahen staatlich finanzierten Stiftungen gibt es nur in der Bundesrepublik und in Österreich. Kannst Du es mir erklären?

Henning Bleyl: Das ist eine direkte Folge des 8. Mai 1945, der Befreiung vom Faschismus. Als Konsequenz aus Weimar haben die Siegermächte das „reeducation program“ gestartet, zur Implementierung demokratischer Impulse in die Gesellschaft. Man hat aus Weimar die Lehre gezogen, dass Gesetz und Parteien allein nicht ausreichen, Demokratie zu erhalten und dass es gut ist, tiefergehend in die Gesellschaft hineinzuwirken. Mit Angeboten zur politischen Bildung und zur Beteiligung an der politischen Debatte in Form dieser zwar parteinahen, aber unabhängigen Stiftungen.  

Ihr seid also gar keine Stiftung von Bündnis 90/DIE GRÜNEN und werdet auch nicht von der Partei finanziert, richtig?

Henning Bleyl: Nein. Es gilt das vom Bundesverfassungsgericht formulierte Distanzgebot zur Partei. Was wir mit der Partei teilen, sind die Grundwerte: Ökologie und Nachhaltigkeit, Demokratie und Menschenrechte, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit. Ein besonderes Anliegen ist die gesellschaftliche Emanzipation und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, die Gleichberechtigung von kulturellen und ethnischen Minderheiten sowie die soziale und politische Partizipation von Immigrant*innen.

Gemäß der föderalen Struktur der Bundesrepublik gibt es in jedem Bundesland eine eigenständig arbeitende Landesstiftung. Naturgemäß ist Bremen also die kleinste.

Henning Bleyl: Mit 1,25 Stellen sind wir sehr schlank, ja. Wir haben keinerlei „Apparat“. Aber wir können an die Struktur des Stiftungsverbundes andocken. Wir sind klein, aber doch aufgehoben in einer größeren Struktur, einem nationalen und internationalen Netzwerk der Fachreferate und der 33 Auslandsbüros. Die sind ein großer Schatz der Stiftung. Überall gibt es kompetente Leute vor Ort, deren Expertisen zu aktuellen Ereignissen sich auf schnellstem Weg einholen lassen. Das ist für die Reflexion politischer Strömungen und für die Arbeit in Bremen sehr wichtig.

Ihr könnt aus dem Vollen schöpfen und dabei machen, was ihr wollt?

Henning Bleyl: Wir sind in der Tat eine komplett eigenständige Landesstiftung mit einem Trägerverein, dessen Mitglieder und Vorstände entscheiden, wie wir inhaltlich arbeiten wollen. Um Synergien zu erzeugen, gibt es darüber hinaus gemeinsame, im Stiftungsverbund verabredete Schwerpunkte, also Oberthemen. „Public Spaces“ zum Beispiel, also die Frage, was öffentliche Räume für eine demokratische Kultur bedeuten.

In einem solchen öffentlichen Raum, dem Foyer des Theaters treffen wir uns seit eineinhalb Jahren für unsere Reihe, die immer aktueller wird, je länger wir sie fortsetzen.

Henning Bleyl: Der Bedarf ist sehr groß, das haben wir ja gemerkt: Am Zuspruch der Menschen, die kommen, und daran, dass die politische Realität der Bundesrepublik von Woche zu Woche dringlicher zeigt, wo die Debattenbedarfe liegen. Thüringen macht das besonders deutlich. Mit der Baum/Frick-Regierung gab es dort schon 1930 die erste Regierungsbeteiligung der NSDAP, Thüringen war Pilotland der Machtübernahme. Die Parallelen sind frappierend. Denn wenn „bürgerliche“ Parteien versuchen, ihre Macht mit Hilfe der Rechten zu halten, bewegt sich die bisherige Mitte zum rechten Rand. Das entspricht dann der Logik, man müsse nach rechts rücken, um dem Zuspruch rechtsnationaler Tendenzen Rechnung zu tragen. Ebenso logisch – und im Gegensatz zur „Rechtsruck-Logik“ politisch richtig! – ist es, gerade wegen der nationalistischen Erfolge mit besonderer Vehemenz deutlich zu machen, dass die Zukunft in der Vielfalt der Gesellschaft liegt und nationale Denkstrecken Sackgassen sind.

Wir hatten in der letzten Veranstaltung mit Lothar Probst die Diskussion über rechte Identitätspolitik und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, das immer auch Ausschluss bedeuten kann. Ist der Mensch in der Lage, sich im Zusammenschluss mit anderen nur auf dem Boden derselben Grundordnung zu identifizieren, ohne eine Nation als identitätsstiftenden Faktor? Gibt es einen nichtnationalen Patriotismus? Sind wir bereit für „cross culture“?

Henning Bleyl: Das ist umstritten, bei dieser Frage wurde es richtig dynamisch im Raum. Die Koppelung von Staatlichkeit an „Nation“ als Idee des 19. Jahrhunderts ist gedanklich noch immer sehr verwurzelt. Nation ist ein Identitätskonstrukt, das von seiner emotionalen Aufladung lebt – und der muss man immer wieder die Luft ablassen. Die taz hat das zum Beispiel mit der Headline „Gott ist Deutscher“ geschafft – als Antwort auf die Bild-Schlagzeile „Wir sind Papst" nach der Wahl von Ratzinger. Wir kommen also immer wieder auf die Kernfrage zurück, ob man dem Bedürfnis nach Patriotismus nachgibt oder sagt: Nein, gerade in Deutschland schwingen wir die Nationalfahne aus guten Gründen nicht. Das ist für mich eine klare und richtige Verfasstheit.

Eine Mentalität, die für uns beide, großgeworden und politisiert in den 80ern, noch selbstverständlich war.

Henning Bleyl: Ja, klar. Wir erinnern uns doch beide daran, was los war, als der Kultusminister von Baden-Württemberg, Gerhard Meyer-Vorfelder, einführen wollte, dass man in der Schule wieder die Nationalhymne singt.

Da war man dagegen. Keine Frage.

Henning Bleyl: Ja. Und natürlich hat uns der Einwand, in Frankreich sei das normal, auch nicht überzeugt. Weil aus der historischen Erfahrung heraus klar ist: Nationalismen sind Borniertheiten, Ersatzstrategien, anstatt sich zukunftsfähige Konzepte für ein Zusammenleben zu überlegen. Natürlich müssen solche Konzepte auch dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit Rechnung zu tragen – zum Beispiel durch die Förderung von Nachbarschaftsstrukturen statt von Nationalgefühlen.

Hat sich eine anti-nationale Grundhaltung, auf die wir uns verlassen konnten, verändert – ist da ein stilles Einverständnis weggebrochen?

Henning Bleyl: Die Schrecken des Zweiten Weltkrieges sind in der unmittelbaren Form, wie sie die Generation vor uns erlebte, nicht mehr so präsent. Man muss sich ja daran erinnern, dass selbst jemand wie Franz Josef Strauß 1949 glasklar formuliert: „Wer noch einmal das Gewehr in die Hand nehmen will, dem soll die Hand abfallen." Aber schon sieben Jahre später treibt er dann als Verteidigungsminister die atomare Bewaffnung der Bundeswehr voran. Und noch etwas später sagte er dann: „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen!“

Die schockierende Erfahrung des Nazi-Regimes, die zu einer klaren antifaschistischen Haltung führte, verblasst langsam und verliert ihre Wirkung?

Henning Bleyl: Meine Mutter saß noch im Bunker, sie hat Krieg und Zerstörung erlebt. Jetzt haben wir die Situation, dass wir uns von der direkten Erfahrung entfernt haben und uns auf diese Selbstverständlichkeit einer nicht-nationalistischen Grundhaltung nicht mehr verlassen können. Es ist nicht verwunderlich, dass sich sieben Jahrzehnte nach 1945 eine Partei in Deutschland etabliert, die diesen Grundkonsens aufkündigt, die eine „Vogelschiss“-Partei ist.

Aber der NSU war doch ein Schock. Die vier Bände Prozessakten zu lesen, ist ähnlich erschütternd wie Peter Weiss` Ermittlung.

Henning Bleyl: Es gibt ja auch Menschen, die sich jetzt ganz stark engagieren. Zu unseren Nach den Rechten sehen-Veranstaltungen kommen ja auch ausgesprochen viele junge Menschen. Es gibt aber auch den anderen Teil der Gesellschaft, junge und alte Menschen, für die die beschriebenen Prämissen der alten Bundesrepublik nicht gelten.

Ganz frei von reaktionären Tönen war die gute alte Bundesrepublik aber doch auch nicht.

Henning Bleyl: Überhaupt nicht! Und in der Tat kann man sagen, dass die CDU eines Alfred Dregger (Fraktionsvorsitzender der CDU 1982-91) in ihrer Rhetorik so national und völkisch war wie heute die AFD. Aber sie war eingebunden in eine CDU, die da eine mäßigende Wirkung hatte. Dass sich das jetzt als eigenständige Stimme etabliert hat und eine auch digitale Dynamik entfaltet, ist eine neue Situation. Der müssen wir uns stellen.

Was wir in unserer Reihe tun. Das ist ihr Kern. Wir schauen nicht nur nach rechtsextremen Erscheinungsformen, sondern wir gucken uns die Bedingtheit der Gesellschaft an, aus der heraus sich solch nationalen Konzepten angenähert wird. Da löst sich der Titel „Nach den Rechten sehen“ auch immer wieder ein. Wir beschreiben nicht das Offensichtliche, sondern schauen auf die Dinge, die erst im tieferen Blick sichtbar werden.

Henning Bleyl: Deswegen war für mich die Veranstaltung mit Elmar Brähler so zentral, der die Autoritarismus-Studie vorgestellt hat. Da konnte man en detail sehen, welche Vorurteilsstrukturen sich wie entwickeln, auch im liberalen, alternativen Spektrum. Beim Ausbuchstabieren der Autoritarismus-Studie zeigt sich die Anfälligkeit der „gesellschaftlichen Mitte“ für völkisches „influencing“, angefangen bei der Adaption rechten Vokabulars über das Mainstreaming faschistoider Musikgruppen, der Akzeptanz nazistischer Nachbar*innen in ländlichen Hilfsstrukturen bis zum ungehinderten Agieren rechter Netze in den Sicherheitsapparaten. Wichtig ist, dass wir sowohl bei diesen Teilbereichen in die Tiefe gehen, als auch das Gesamtpanorama im Blick behalten – und vor allem auch die Betroffenen-Perspektive.

Als wir die Reihe begonnen haben, war der NSU-Prozess gerade abgeschlossen und wir haben sehr konkret – natürlich auch aufgrund der Beschäftigung des Theaters mit „Aus dem Nichts“ und „Das schweigende Mädchen“ – danach gefragt, wie es passieren konnte, dass über so lange Zeit Rechtsextremist*innen ihre Blutspur durchs Land ziehen konnten, ohne behelligt zu werden. Und wir haben nach der Gesellschaft gefragt, in der das stattfinden kann. Haben wir Antworten gefunden?

Henning Bleyl: Einige durchaus. Und der Bundespräsident hat mittlerweile ebenfalls eine Antwort gefunden, wenn er sagt: „Diese Verbrechen geschehen nicht zufällig. Diese Tat hat eine Vorgeschichte. Eine Vorgeschichte der Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit Migrationsgeschichte, von Muslimen, von angeblich Fremden. Eine Vorgeschichte geistiger Brandstiftung und Stimmungsmache.“

Daran, dass an dieser Vorgeschichte nicht weitergeschrieben wird, müssen wir arbeiten. Auch mit unserer Reihe. Sie ist auf zwei Spielzeiten begrenzt und wäre eigentlich mit Abschluss dieser Spielzeit zu Ende. Das sollten wir überdenken ...