Wie viel überlässt man der Fantasie der Zuschauer:innen?

Darüber, wie Kästner es schafft, Zivilisationskritik und Fantasie zu einem faszinierenden Stoff zu verweben: Martin G. Berger, Autor und Regisseur der Musical-Uraufführung Der 35. Mai im Gespräch mit Dramaturgin Caroline Scheidegger.

Caroline Scheidegger: Der 35. Mai ist ein Auftragswerk für das Theater Bremen. Du und die Komponisten Jasper Sonne und Michael Ellis Ingram habt Kästners Buch als Musical adaptiert. Wann war deine erste Begegnung mit dem 35. Mai? Was verbindet dich mit Kästners Text? 

Martin G. Berger: Ich kenne den 35. Mai seit meiner Kindheit – meine Eltern haben ihn mir vorgelesen, später habe ich ihn selbst gelesen. Ich war immer ein begeisterter Erich Kästner-Fan und dieses Buch hat mich besonders fasziniert. Und seit ich mich mit Musiktheater befasse, habe ich immer wieder gedacht: Eigentlich wäre das doch ein tolles Musical! Als das Theater Bremen dann auf mich zukam, habe ich auch sofort wieder an den 35. Mai gedacht und konnte mir damit tatsächlich einen Kindertraum erfüllen. 

Was genau fasziniert dich am 35. Mai

Das, was mich auch an guten Musicals fasziniert, nämlich, dass Kästner es hier schafft, total ernste Themen und Zivilisationskritik in eine sehr leichte und einfach zugängliche Form zu gießen. Das macht ihn sowohl für Kinder als auch Erwachsene interessant. Kästner erzählt eine Abenteuergeschichte, eine Reise durch verschiedene fantastische Welten, und zwar so charmant und intelligent, dass man sich auch als Erwachsener daran erinnert, wie gut es tut, mit ein bisschen mehr Fantasie auf die Welt zu blicken. Kästner spart dabei aber nichts aus, sondern ganz im Gegenteil – er greift sich auch wichtige, gesellschaftskritische Themen und spitzt sie lustvoll zu, ohne dabei jemals zynisch oder niederschmetternd zu wirken. 

Du hast den 35. Mai ja nicht nur geschrieben und warst am Kompositionsprozess beteiligt, sondern hast ihn auch auf die Bühne gebracht. Macht es einen Unterschied, seine eigenen Stücke zu inszenieren? Was reizt dich daran?

Das Schöne am selber Schreiben und selber Entwickeln ist natürlich, dass man viele Dinge, die einen interessieren, einbringen und das Stück schon beim Machen in die richtige Richtung lenken kann. Aber tatsächlich war es beim 35. Mai dann ein ziemlich langer Prozess, ihn auch in eine Produktion zu übertragen. Gerade bei Stücken, die viel Fantastisches anbieten, stellt sich ja immer die Frage: Wie viel überlässt man der Fantasie der Zuschauer:innen? Wie viel zeigt man? Welche Mittel hat man zur Verfügung? Welche Mittel machen Sinn? Uns war schnell klar, dass uns vor allem die Fantasie in den Köpfen interessiert und wir die einzelnen Welten, durch die die Hauptfiguren reisen, gar nicht komplett ausbuchstabieren wollen. Auch, weil wir eben diese tollen Darstellerinnen und Darsteller hatten und sie in den Vordergrund stellen und von ihrer stärksten Seite zeigen wollten. Die Besetzung stand schon sehr früh fest und so konnten wir das Stück an die Besetzung anpassen und nicht die Besetzung ans Stück. Jedes Mal, wenn ich Stücke von mir selber inszeniere, merke ich, wie oft ich dann doch Regieanweisungen überhaupt nicht beachte und komplett etwas anderes inszeniere, als ich selber geschrieben habe. Da bin ich eine gespaltene Persönlichkeit – und das versuche ich auch ganz bewusst zu sein. Beim Inszenieren entsteht eine Nähe zur Produktion und gleichzeitig ein Abstand zur abstrakten Idee des Stoffs und das ermöglicht es mir, ganz pragmatisch und situationsgebunden mit dem eigenen Stück umzugehen. Idealerweise würde ich gerne mit jedem Stück so umgehen und nicht nur mit denen, die ich selbst geschrieben habe. 

Die Uraufführung des 35. Mai liegt schon ein paar Wochen zurück, du hast unterdessen schon ein weiteres Musical zur Premiere gebracht. Wie blickst du jetzt mit ein bisschen Abstand auf den 35. Mai?  

Ich bin immer kritisch mit mir und es gibt immer etwas, mit dem ich nicht ganz zufrieden bin, aber insgesamt bin ich total happy mit dem Produkt. Es war eine ganz schöne Geburt, weil eine Uraufführung, ein Stück, das noch nie gespielt worden ist, immer besondere Herausforderungen mit sich bringt. Wir haben ja während der Proben nochmal richtig am Material gearbeitet, wir haben Kürzungen und Umstellungen vorgenommen, auch das Bühnenbild nochmal verändert. Das war schon sehr anstrengend für alle, aber ich bin stolz darauf. Ich finde, wir haben eine unglaublich tolle Besetzung: Das ist so toll gespielt und auch musikalisch ganz toll umgesetzt worden. Mir ist das auch nochmal bewusst geworden, als ich einen Mitschnitt, den ich von einer der Vorstellungen habe machen lassen, korrigiert habe. Auch meine Tochter Rosa hört sich das Stück von morgens bis abends auf dem Tablet an. Es macht mich schon sehr glücklich, was dabei herausgekommen ist. Und wie ich höre, die meisten Zuschauer:innen auch und ich hoffe natürlich, dass noch mehr Leute kommen, um sich glücklich machen zu lassen.

 

 

Veröffentlicht am 27. November 2024