Gross und klein zur gleichen Zeit

Ein Gespräch zwischen Annika Tudeer von Oblivia und Anna Teuwen, Dramaturgin bei Kampnagel und Wegbegleiterin, über physische Regie, Arbeit im Kollektiv und Emotionen in Form und Inhalt.

Anna Teuwen: Annika, eine Frage vorweg: Die Produktion „Obsessions“ entwickelt ihr im Rahmen der Förderinitiative NOperas!, die neue Formen der Oper unterstützt. Was kann die Oper von Oblivia lernen?

Annika Tudeer: Weiterhin an einer offenen und kollaborativen Produktionsumgebung zu arbeiten. Mutig und freundlich zu sein und sich auf Herausforderungen einzulassen – wie die Vergabe von Aufträgen für neue Werke mit zeitgenössischer Musik an schräge Künstler:innen.

Oblivia gibt es seit mittlerweile 22 Jahren – du hast die Gruppe im Jahr 2000 in Helsinki zusammen mit Timo Fredriksson gegründet. Erzähl uns von den Anfängen der Gruppe – wie hat sich Oblivia entwickelt?

Annika Tudeer: Ich wollte mich damals von den hierarchischen Arbeitsweisen distanzieren, die ich zuvor als Tänzerin erlebt hatte, und so war Oblivia ein Experiment, das mit der Frage begann: Ist es möglich, kollektiv, nicht-hierarchisch, multikünstlerisch und auf freundschaftliche Weise zu arbeiten? Offensichtlich war es sehr gut möglich, denn heute, 22 Jahre später, haben wir noch immer die gleiche Arbeitsethik.

Einige Gruppenmitglieder sind von Anfang an dabei und tragen die Ästhetik und den Geist von Oblivia, aber auch neue Mitglieder haben mittlerweile ihre Ansätze miteingebracht.

Annika Tudeer: Wir laden oft Gastkünstler:innen für bestimmte Projekte ein, und arbeiten dabei am liebsten so lange wie möglich mit denselben Leuten zusammen. Wir haben eine ästhetische und strukturelle Basis für unsere Arbeit, und jeder, der hinzukommt, bringt neue Arbeits- und Denkweisen ein. Die Arbeit verändert sich dadurch, aber der Oblivia-Charakter ist wiedererkennbar und beständig.

„Entertainment Island“ hat 2008 dafür die Maßstäbe gesetzt: Die Trilogie – für Binge-Watching-Fans teilweise sogar an einem Abend aufgeführt – hat die internationale Tanz- und Theaterwelt begeistert mit ihrer unverwechselbaren und unvergleichlichen Ästhetik, ungewöhnlichem Humor und Bewegungsvokabular, konkret und abstrakt zugleich, komödiantisch verspielt und zugleich reduziert, sehr zugänglich und aber auch sehr komplex. Eigentlich eine Essenz von Oblivia, markenbildend sozusagen. Bei „Entertainment Island“ ging es um Unterhaltungskultur, und damit natürlich irgendwie auch um euch selbst, als Theatergruppe. Was hat euch daran interessiert?

Annika Tudeer: Unterhaltung war etwas, mit dem wir als experimentierfreudige Avantgarde-Künstler:innen beruflich wenig zu tun hatten, mit dem wir aber als Konsument:innen von Unterhaltung und als Menschen, die in einer Gesellschaft leben, die von Unterhaltung durchdrungen ist, reichlich vertraut waren. Die Trilogie entstand, weil wir „Unterhaltung“ aus drei verschiedenen Blickwinkeln betrachten wollten, von der Unterhaltungsindustrie bis zur privaten Unterhaltung. Ein thematischer Destillationsprozess.  

Euer nächstes großes Projekt nach „Entertainment Island“ war wieder seriell angelegt und umfasste sogar fünf Teile: „MOPMA – Museum of postmodern Art“. Ihr habt von 2012 bis 2016 daran gearbeitet. Wiedererkennbar war die (Selbst-)Reflexion der eigenen Position auf dem Kunstmarkt, basierend auf leichtem Größenwahn mit integrierter direkter Ironisierung desselben.

Annika Tudeer: Der Größenwahn ist Oblivia inhärent. Wir sind groß und klein zur gleichen Zeit. Wir wollten die Kunstwelt auf dieselbe Weise betrachten wie die Unterhaltungsbranche. Eine Serie von fünf Performances umfasst aber eine sehr lange Zeitspanne, und im Jahr 2012 veränderte sich die Welt. Populismus und Nationalismus wurden stärker und die Kunst und die Strukturen für die Kunst wurden in vielen Ländern bedroht. Am Ende schien es keine so gute Idee zu sein, die Strukturen der Kunstwelt zu kritisieren. Stattdessen brauchten die Strukturen jede Unterstützung, die sie bekommen konnten. Strukturen, auf die auch wir angewiesen waren.

Ihr habt euch anschließend wieder konkreten Themen zugewandt, privat und politisch zugleich …

Annika Tudeer: Mit Verdrängen Verdrängen Verdrängen begann die Reihe der Musiktheaterwerke über Politik und Emotionen. Weil wir so sehr auf Form und Minimalismus ausgerichtet waren, haben wir Emotionen als Thema bis vor kurzem nicht in unsere Arbeit einbezogen. Heute kann ich mir nicht mehr vorstellen, ohne Emotionen zu arbeiten. Es muss nicht nur um Konflikte und dramatische Ausbrüche gehen, es hat auch viel mit Reflexion, Selbstreflexion und Kommunikation zu tun.

Was heißt das konkret in Bezug auf eure Arbeit?

Annika Tudeer: Die Idee hinter dieser Reihe, die mit Obsessions und dem nächsten Werk Pleasure, das Anfang 2023 im Theater Rampe Premiere hat, fortgesetzt wird, ist, dass Emotionen sowohl im Inhalt als auch in der Form zu finden sind. Das Musiktheater ist voller Emotionen, und die politische Kultur unserer Gegenwart wirkt auf einer sehr intensiven und emotionalen Ebene durch die Instant-Click-Kultur. Auch Populismus und Nationalismus arbeiten sehr stark und zynisch auf einer emotionalen Ebene.

Obsessionen, also Besessenheiten, sind die Emotionen, um die es in eurer aktuellen Arbeit geht. Um welche und um wessen Obsessionen geht es?

Annika Tudeer: Es ist eine Reise durch Obsessionen aus verschiedenen Perspektiven, beginnend mit dem alten Rom, mit Macht und Diktatur, dann über soziale Obsessionen, ständigem Tanzen und Reden, und am Ende landen wir in einem post-obsessiven, destillierten Zustand. Die intensiven und zwanghaften Zeiten, in denen wir leben, verändern sich langsam und wir geben einen Ausblick auf ein mögliches abstraktes Ergebnis am Ende. Es ist ein ziemlicher Trip, der auf vielen Ebenen gleichzeitig funktioniert.

Wie hängt die Besessenheit im Musiktheater bzw. in der Performancekunst mit der in der Politik zusammen?

Annika Tudeer: Kunstwerke spiegeln die Zeit wider, in der wir leben. Aber im Allgemeinen sind die Strukturen der Kunst von der Politik abhängig, und obsessives Verhalten in der Politik kann die Strukturen der Kunst beeinflussen. Im Theater ist das gleiche Maß an besessener Intensität zu finden, wie in der Politik. Es wird nur anders gehandelt. Wäre ein Politiker besessen davon, neue Strukturen für zeitgenössisches Musiktheater und Oper zu schaffen, hätte Deutschland mehrere seiner Opernhäuser dafür reserviert, oder zumindest einige der Bühnen dieser Häuser. Obsessionen und Triebe können Veränderungen bewirken. 

„Obsessions“ ist eure bisher größte Produktion – neben dir und Timo sind zwei Ensemblemitglieder des Theater Bremen sowie drei Sänger:innen und sechs Musiker:innen beteiligt. Das ist eine ganz neue Struktur, für euch ebenso wie für das Theater. Wie arbeitet ihr zusammen?

Annika Tudeer: Die Arbeit in einer Institution erforderte eine völlig neue Art der Planung und Organisation der Arbeit. Komposition, Licht- und Kostümentwürfe mussten lange im Voraus eingereicht werden. Das bedeutete, dass auch die Aufführung lange im Voraus strukturiert sein musste, damit die Komponistin Yiran Zhao, die Kostümbildnerin Tua Helve und die Lichtdesignerin Meri Ekola ihre Arbeit machen konnten. 1,5 Jahre lang hat das gesamte künstlerische Team an Obsessions gearbeitet. Wir haben während der Pandemie auch über Videokonferenz geprobt. Digitale Videokommunikation hat uns neue Möglichkeiten eröffnet, zu arbeiten und in Kontakt zu bleiben, da wir in verschiedenen Städten und Ländern leben. In den sechs Wochen vor der Premiere hier in Bremen haben wir uns mit der Musik, der vorbereiteten Struktur und dem Inhalt der Aufführung beschäftigt, aber auch mit dem Miteinander und einer freundlichen, sicheren und gemeinschaftlichen Arbeitsatmosphäre. Es gab Raum für Inputs von allen. Unser Team hier in Bremen ist fantastisch, unterstützend, erfinderisch, offen und macht eine Menge Spaß.

Es gilt als Oblivias Markenzeichen, mit minimalistischen Mitteln große Themen der Menschheit zu behandeln. Du hast schon eben von einem Destillationsprozess gesprochen. Schon früh habt ihr dafür eine ganz eigene Methode erfunden, die seither eure Arbeit prägt …

Annika Tudeer: Wir haben die „Do what you saw“-Methode entwickelt, um das Material für die Aufführungen zu entwickeln. Man nimmt sein großes Thema, schreibt freie Assoziationen dazu und teilt sie. Dann improvisiert man einen 3-4-minütigen Solo-Prototyp und jeder von uns macht abwechselnd eine Kopie davon, das heißt, wir versuchen, das Gesehene so gut wie möglich zu kopieren. Es folgt eine Kopie der Kopie wie in „Flüsterpost“. Am Ende haben wir eine Menge Material, mit dem wir improvisieren. Wir haben auch eine Übung, die wir „Share“ nennen. Dabei nimmt sich jeder eine gewisse Zeit, um eine Sequenz oder eine Art der Bewegung zu entwickeln und sie mit anderen zu teilen, indem wir uns gegenseitig beibringen, wie es geht. Mit der Komponistin Yiran Zhao haben wir ausgehend davon 2019 die „Do what you hear“-Methode entwickelt. Yiran spielt und wir machen, was wir gehört haben und dann antwortet Yiran mit dem, was sie gesehen hat usw. Wir haben auch Licht und Ton einbezogen, und das Licht reagierte auf die Musik oder auf die Bewegung, und wir oder die Musik reagierten auf das Licht. Licht und Ton als integrale Bestandteile der Aufführung zu verstehen war bahnbrechend für unseren kollaborativen Prozess. Dies führte zu den Klang- und Lichtmomenten, die man übrigens sowohl in Verdrängen als auch sehr gut in Obsessions sehen kann.

Könnt ihr euch auch vorstellen, die Kollektivstruktur hinter euch zu lassen und in Zukunft Regie zu führen?

Annika Tudeer: Auch das Kollektiv kann sehr gut als Regie und Dramaturgie auftreten, wie bei Obsessions. Ich kann mir vorstellen, dass Oblivia nur Regie führt, auf unsere eigene oblivianische Art, bei der wir alle Teil des Prozesses sind, und keine Darsteller:innen aus der Gruppe mehr auf der Bühne stehen. Dramaturgie und Regie führen bedeuten bei Oblivia, das Stück physisch mitzugestalten. In Obsessions haben sowohl Anna-Maija Terava als auch Alice Ferl als Dramaturginnen die Arbeit in den Proben physisch entwickelt, auch wenn sie dieses Mal nicht auf der Bühne stehen. Timo und ich haben dann in den Endproben quasi als Boten fungiert, die die kollektiv erarbeitete Aufführung an die Gruppe der Bremer Sänger:innen und Schauspieler:innen weitergegeben haben. Dass wir selbst physisch teilnehmen, ist auch eine Art Regie, vermute ich. Kollektivität kann auf so viele Arten existieren, aber das Wichtigste ist, die Kommunikation innerhalb der Arbeitsgruppe und des künstlerischen Teams offen zu halten.

Die letzten Projekte habt ihr oft in Zusammenarbeit mit deutschen Institutionen durchgeführt, aber ihr seid ebenso in Finnland verwurzelt und präsentiert dort regelmäßig eure Arbeiten. Was kennzeichnet die länderübergreifende Zusammenarbeit? Gibt es Unterschiede in der Rezeption?

Annika Tudeer: In Deutschland sind die Szene und das Publikum so viel größer. Als wir anfingen, unsere Arbeiten in Deutschland zu zeigen, fühlten wir uns sofort verstanden. Es ist ein sehr offenes, intellektuelles und neugieriges Umfeld. Es gibt etwas in unserer Arbeit – vielleicht der Humor, die Verkörperung philosophischer Fragen? – das beim deutschen Publikum Anklang findet, und wir fühlen uns wie zu Hause. Die länderübergreifende Zusammenarbeit gibt einer Arbeit so viel mehr: Wissen, Inspiration, Sichtweisen aus so vielen verschiedenen Schulen und Kulturen. Diese Heterogenität ist Teil von Oblivia. In Deutschland gibt es ein großes Wissen über kollektives Arbeiten, auf das wir gerne zurückgreifen.

 

 

Veröffentlichung: 15.2.22