„High vor Sehnsucht“

Nicht wahrscheinlich aber möglich – oder: auch Spatzen müssen fliegen lernen … Simone Sterr über die Proben zur Uraufführung von düsterer spatz am meer / hybrid (america)

4. Juni 2020. Zwölf Menschen sitzen in einem sehr großen Halbkreis auf der gut gelüfteten leeren Bühne des Kleinen Hauses, der Bühnenhimmel ist weit, die frischen Textbücher ruhen kopierwarm auf den Knien. Das ist unspektakulär? Das ist magisch! Gleich werden sie gemeinsam lesen, einen Text erforschen, sich zuhören. Die Augen des Regisseurs werden lachen, die Spieler*innen erwartungsvolle Fragezeichen im Gesicht tragen und die Dramaturgin wissend vor sich hin nicken. Gleich geht´s los. Nach vielen Wochen Stillstand: ein Ensemble, ein Stück, ein Anfang. Mensch, ist das schön.

Aber zuvor tritt der Betriebsarzt auf.

Vorsicht und Vertrauen. Rationalität statt Panik. Ausführlich erklärt er die neuen Regeln. Spielen ohne Körperkontakt, sprechen ohne Expression, singen nur ganz weit weg vom Publikum. Der Regisseur ist Armin Petras! Lulu, Love you, Dragonfly, Schloss Rosmersholm – kann man sich das ohne die Energie miteinander agierenden Körper, ohne Schweiß, ohne Entäußerung, ohne Nähe überhaupt vorstellen? Auch Requisiten dürfen nicht weitergegeben, nichts von mehreren Menschen angefasst werden. Die Dinge sauber halten ist die Devise. Aber sauber waren diese Inszenierung nun wirklich nicht. Der Betriebsarzt sagt zur Weitergabe von Sachen, die durch viele Hände gehen den Satz:

„Geld zum Beispiel. Das kann nie wirklich sauber sein“, und er findet damit die perfekte Überleitung zu unserem Stück.

düsterer spatz am meer / hybrid (america): Fritz Kater hat es während des Lockdowns geschrieben. Ein großer Wurf. Eine amerikanische Familiengeschichte über drei Jahrzehnte, mehrere Wirtschaftskrisen und Präsidentschaften hinweg, von den 80er Jahren bis kurz vor heute. Eine bittere Bestandsaufnahme des „american dream“ und der Höhe des Preises für die Regentschaft des Geldes einer Gesellschaft. „An den Kern der kapitalistischen Gesellschaft vordringen“, sagt Armin Petras dazu und weiß, dass das hoch gegriffen ist. Also sprechen wir von Gier und Liebe, von den Träumen der Figuren, die allesamt Geldträume sind, von der Ökonomisierung von Beziehungen und wie dadurch die Lüge in die Welt kommt, der Selbstverrat und schlussendlich auch die Einsamkeit.

In den ersten Proben werden diese Themen ausgelotet.

Im zweiten Akt zum Beispiel. Da ist das junge Paar Melinda und Martin genau auf der Grenze, wo sich Romantik in Ökonomie wandelt. Das gemeinsame Kind ist da, Martins Geld vermehrt sich rasant, die Lebensverhältnisse explodieren und die Lüge frisst sich rein in die Figuren. Armin Petras versucht das vom Blick der Frauenfigur aus zu betrachten und das männliche Potenzgehabe zu entlarven. „Stell dir vor, du bist gutaussehend aber in sehr dünnen Unterhosen“ sagt er zu Ferdinand Lehman, der den jungen Martin spielt und Annemaike Bakker grinst dazu und sackt in der Figur der Melinda ohne mit der Wimper zu zucken gleich Martins ererbte Villa ein.

Überhaupt die Frauen. Sie sind der Motor des Stückes, aus ihrer Perspektive erzählt sich die ganze Story.

Die junge Melinda mit ihrer immensen Lust auf Ausbruch und Leben, „high vor Sehnsucht“ (Petras), ihre vom Leben gezeichnete aber noch immer liebende Mutter Veronique, das weibliche Familienoberhaupt Mrs. Hammilton, die ältere Melinda, die das Imperium ihres Mannes Martin übernimmt und ihre schäbige Heimat von früher platt macht, um mit Weltraumtourismus ins ganz große Geschäft einzusteigen und ihre Tochter Luna, die sich für aussterbende Pflanzenarten verkämpft.

Die Welt, in der das Stück spielt, mag vordergründig männlich dominiert, ihre Ideale mögen männlich besetzt sein, aber die treibenden Akteurinnen sind diese vier Frauen.

11. Juli 2020 der erste Ablauf. Ab morgen sind Ferien. Trotz der neuen Regeln ist ein wilder, reicher, bildstarker Abend auf der Bühne, der den üblichen Eindruck in der Arbeit mit Armin Petras auslöst: Wir haben zu viele Ideen, wir dürfen sortieren, verdichten aus dem Vollen schöpfen, an den Reglern drehen, weil die Skala so schön lang ist. Schöne Ferien!

Nach den Ferien wird wieder losgelegt. Die erhofften Lockerungen, was Zusammenspiel und Nähe angeht, bleiben aus.

Das Theater hat sich nicht nur vorübergehend geändert. Wir müssen es wohl dauerhaft neu denken und anders machen.

In 14 Tagen soll der düstere spatz fliegen können. Es wird an dem, was vor den Ferien angelegt war, weitergearbeitet, verworfen, verstärkt, verändert. Jeden Tag neu. Alles bewegt sich, vor allem im Kopf des nie ruhenden und sich nie auf etwas ausruhenden Regisseurs. Wir proben den ersten Akt. Alles soll installativer werden. Das Bild künstlicher, schriller, formaler. Das Maß an Verfremdung höher. Darin aber beginnt das Ringen um den menschlichen Faktor. Was wollen diese Menschen wirklich? Was heißt es, wenn in einer Beziehung der Humor vergeht? Welche Tiefe hat ein auf der verlorenen Gemeinsamkeit verendender Witz? Wir haben Schablonen der Figuren im Kopf aber können wir sie substantiell verstehen? Versteht sie ein europäisch geprägter Fritz Kater oder überschreibt er eher amerikanische, literarische Vorbilder?

„Vergesst Deutschland, vergesst die norddeutsche Tiefebene. Ich weiß, das ist nicht leicht angesichts der Umstände, die euch umzingeln. Aber ihr könnt das.“, ermuntert Armin Petras die Spieler*innen und macht ihnen gleichzeitig eine Liebeserklärung.

Nur sie werden die Lücke vom Text zum Herzen, vom Zeigen zum Sein, vom Papier zum Menschen überwinden können. Das Äußerliche und das Eingemachte. Immer geht es um beides. Ein starkes Bild ist bloße Hülle und genügt nicht. Die Spieler*innen müssen es füllen. Und das tun sie. Der Regisseur heizt ihre Vorstellungskraft und Fantasie an, fordert Dinge zu erfinden, die nicht wahrscheinlich aber dennoch möglich sind. Wenn sich drei Figuren dann ein im wasserlosen Pool unter der sengenden Hitze Floridas krepierendes Albinokrokodil vorstellen, dann bekommt so eine Szene die dritte Dimension, die Tiefenschärfe, die sie braucht. Und so lernt der düstere Spatz Bild für Bild das Fliegen. Am 26. September ist es dann so weit. Die Bühne ist nicht mehr ganz so leer. Aber der Bühnenhimmel noch ein Stück weiter. Mensch, wird das schön.