„Was Hunderttausend Hippies nicht geschafft haben, schaffen wir hier“

No Rain! kommt auf den Goetheplatz, Dramaturgin Brigitte Heusinger spricht mit Regisseur Tom Ryser, Bühnenbildner Stefan Rieckhoff und den musikalischen Leitern Andy Einhorn und Yu Sugimoto.

Brigitte Heusinger: Worum geht es in dem Theatererlebnis No Rain! für euch? Was ist No Rain?

Tom Ryser: Du und ich hatten ja schon lange ein Projekt über eine Massenveranstaltung im Kopf, nämlich das Woodstock-Festival 1969, bei der es unendlich gegossen hat und die Menschen lautstark versucht haben, den Regen zu beschwören: No rain, no rain! Vergebens, wie wir heute wissen, es war eine Schlammschlacht. Aber wo, wenn nicht in Bremen, muss man etwas gegen den ewigen Regen tun. Was Hunderttausend Hippies nicht geschafft haben, schaffen wir hier: Wir, wir, wir!

Es geht um strömenden Regen, um das Versammeln von Menschen, aber es geht auch um Fußball, denn die Massenveranstaltung Europameisterschaft steht vor der Tür.

Tom Ryser: Im Grunde geht es darum, gemeinsam für oder gegen etwas zu sein. Am Anfang sind wir zusammen dafür (das Tor, den Fußball), dann zusammen dagegen (den Regen) und dann im dritten Teil „zusammen im Zusammensein“ im Zuschauerraum. Es singt um dich herum, es ruft um dich herum, es spielt um dich herum. Musik von allen Seiten. No Rain! ist ein Versuch, für das Publikum Töne und Massen dreidimensional erfahrbar zu machen, ein Erlebnis, das dir kein Kino, kein Netflix bieten kann.

Stefan Rieckhoff: Es geht um Fußball, aber es geht genauso auch um Theater. Theater ist wie ein Fußballstadion, eine Kirche oder Festwiese ein Ort der Begeisterung, der Emotionen und des gemeinsamen Erlebens. Und wo keine Musik ist, kann es sehr schnell leer werden …

Andy Einhorn: In Tönen, in Slogans und in Schlachtrufen drückt sich gerne mal das ganze Leben aus. Ich kenne das selber vom Sport, dass alles Emotionale auf diesen Stellvertreter-Schauplatz transportiert wird und sich hier ausdrücken kann. Man denke an die krasse Energie, die ausgelöst wird, wenn ein Elfmeter geschossen wird. So kam auch unser heimliches Motto zustande: „Es geht hier nicht um Leben und Tod, es geht um sehr viel mehr“.

Und die Menschen, die sich gemeinsam äußern, denen es um mehr als das Leben geht, sind ja recht viele und sehr unterschiedlich. Es gibt wahrlich keinen einheitlichen Musikstil.

Tom Ryser: Ja, ein Profichor trifft auf einen Laienchor, die Bremer Philharmoniker auf eine Band, Händel auf Queen, Schlachtrufe auf Arien, Led Zeppelin auf Carmina Burana, Mozart auf Crosby, Stills, Nash and Young, Rock auf Klassik – ein Zusammentreffen von Gesangssolist:innen, Schauspieler:innen, Bremer Philharmonikern, Band und Bürgerchören. Du hörst Dinge, die du zu glauben kennst, ganz anders. Und Dinge, die du noch nie gehört hast, kommen dir bekannt vor.

Yu Sugimoto: Wir haben mit dem Orchester und der Band zwei Mannschaften. Beim Fußball gibt es immer zwei Teams, die gegeneinander kämpfen. Diese Atmosphäre wollte ich drin haben, auch in der Musik.

Der Abend findet in drei Stationen statt: auf dem Goetheplatz, hier verfolgen wir die erste Halbzeit eines fiktiven Spiels, in den Foyers, wo wir uns mit einem Freigetränk in der Hand zwischen singenden und spielenden Menschen bewegen und im dritten Teil im Zuschauerraum, in dem es erstaunlich kontemplativ zugeht.

Yu Sugimoto: Eine musikalische Schlüsselrolle spielt die Komposition Johannes von Damaskus von Serge Taneyev. In meinen Augen waren wir lange Zeit musikalisch in einem spielerisch kämpferischen Modus. Jetzt sind wir im Zuschauerraum und mitten in ihm ertönt irgendwann purer Gesang, a cappella. Ab jetzt beginnt etwas anderes, aus dem Kampf wird Versöhnung, alle schauen auf einmal in die gleiche Richtung.

Tom Ryser: Wir sind alle gemeinsam in einem Klangraum und meine Hoffnung wäre, dass ein großes Wir erzeugt wird.

Yu Sugimoto: Das Orchester sitzt im ersten Rang. In Bremen hat das Orchester schon oft außerhalb des Grabens gespielt, aber dieser Platz ist absolut neu. Das, was wir in unserer kleinen Besetzung spielen, muss immer in Beziehung zur Band stehen, die sich auf der Bühne befindet. Die beiden Kollektive reagieren aufeinander, kein Musikstück darf alleine stehen, alles muss musikalisch und szenisch verbunden sein. 

Andy Einhorn: Die Schranke zwischen E- und U-Musik wird durchbrochen. Yu und ich haben ganz eng zusammengearbeitet und auch ein Stück kreiert, in dem „O Fortuna“ aus Carl Orffs Carmina Burana und Kashmir von Led Zeppelin verschmelzen.

Manchmal kamen mir die Proben wie eine Improvisation mit 120 Menschen vor, mit Frontman Tom Ryser als Dompteur. Auch die Autorenschaft ist ziemlich geteilt, oder?

Tom Ryser: Ja, das musikalische Material kam von vielen Seiten, natürlich von Yu Sugimoto und Andy Einhorn, aber ebenso von Sarah Weinberg, den Solist:innen, der Band, dem Ensemble und auch Musikdirektor Stefan Klingele hat super Vorschläge gemacht. Die gesamte Textstruktur ist durch die Solist:innen entstanden. Stundenlang haben wir zusammen am Tisch gesessen und an Worten, Sprüchen, am Inhalt gefeilt. Danke dafür an euch, an Ulrike Mayer, Sema Mutlu, Martin Baum, Sarah Weinberg, Mirjam Rast.

Und die Bühne?

Stefan Rieckhoff: Arenen sind ja erstmal leer, Nicht-Orte, die erst durch die Menschen ihren Charakter bekommen. Als Bühnenbildner interessiert mich, eine szenische Versuchsanordnung zu stiften: das Theater als Versammlungsstätte, nicht als nachgebaute Welt, sondern als Parcours, in dem wir etwas erleben.

Tom Ryser: Und wir haben noch das Licht, wir haben Effekte, wir haben Video, wir sind draußen, wir sind drinnen, wir haben Megafone, wir haben Schilder, Plakate, alles Mittel, um Massen zu animieren, zu lenken oder irgendwo hinzuführen – damit niemand verlorengeht und wir alle beieinander bleiben.

 

 

Veröffentlicht am 3. Juni 2024