Ich will nicht klingen wie ... Akın Emanuel Sipal

Ein Text von Simone Sterr über den Theater Bremen-Hausautor, Akın Emanuel Şipal, erschienen im Juli 2020 in Theater der Zeit.

Zuhören. Bei Akın Emanuel Şipal ist das ein Vergnügen. Es macht Freude, seinen Geschichten zu folgen, ihn erzählen zu lassen von seiner Familie, schwärmen von Literatur, abschweifen in Politik. Als Gesprächspartner macht er es einem sehr leicht: mit seinen klaren Gedanken und schlauen Thesen, die einen mitreißen in den philosophischen Diskurs. Wie aber verdichtet sich dieser narrative Sprachfluss ins Dramatische, das ohne die Kunst des Aussparens und Weglassens nicht auskommt?

Auch seine Stücke sind eine Einladung, genau zuzuhören, hineinzuhorchen, zwischen die Zeilen zu lauschen. Dabei hört sich jeder Text anders an. Der Autor sucht nicht nach „seiner“ Sprache, er sucht nach dem jeweils richtigen Ton fur den Gegenstand seines Erzählens. Er kennt keine Scheu und keine Vorbehalte, schreckt vor keinem Genre zurück. Dachte man bei Kalami Beach, das er als Hausautor 2015 für das Nationaltheater Mannheim schrieb, noch, das ist einer für rhythmisierte, artifizielle und sehr lustige Textflächen, sprühte er kurz darauf mit lockerer Hand den Liederabend Istanbul in die Welt, der von Bremen aus den Siegeszug in viele ausverkaufte Häuser der Republik antrat. Sehr ernsthaft und fast klassisch-realistisch wurde er bei Ein Haus in der Nähe einer Airbase, ein Stück, das den politisch denkenden Dramatiker offenbarte und mit etwas arbeitete, was es wohl kaum mehr gibt in der zeitgenössischen Dramatik: den psychologisch motivierten Dialog. Der hatte dann eher Seltenheitswert in der Komödie Shirin & Leif, einem Stück fürs Große Haus in Bremen, mit dem er 2019, gemeinsam mit seinem Bruder Edis Arwed Şipal, so richtig auf die Kacke haute und die linksliberalen Vorstellungen von interkulturellem Zusammenleben genüsslich durch den dramatischen Kakao zog. Für einen nicht mal dreißigjährigen Autor sind da schon erstaunlich viele Klänge zusammengekommen, wurde mit Textsorten jongliert und mit Formen experimentiert in einer Neugier und formalen Fülle, die außergewöhnlich ist.

Kann man so gar nicht sagen, wie ein Şipal klingt? Gibt es nicht den einen, seinen spezifischen Şipal-Sound? „Wenn ich Stücke schreibe, dann verhalte ich mich zu allem, was ich mir reinziehe und zu anderer zeitgenössischer Dramatik, und ich versuche, einen Ton zu finden, der keinem anderen ähnelt. Es wäre mir furchtbar unangenehm, wie etwas zu klingen; wenn ich das bemerke, dann deprimiert es mich und verleidet mir den Spaß an der Auseinandersetzung. Gleichzeitig finde ich nichts schlimmer, als auf einem Ton hängen zu bleiben. Ich schreibe und mache Filme für mich, ich habe immer etwas gemacht mit Bild und Sprache. Aber damit man das aushält, muss man sich entwickeln. Ich will nicht klingen wie Şipal vor zehn Jahren. Ich will überhaupt nicht klingen wie … Ich will, dass es klingt, so wie es dem Kontext, dem Inhalt, dem Verhältnis von Form und Inhalt entsprechend klingen muss. Und ich möchte nicht zu viel darüber nachdenken“, sagt Akın dazu beziehungsweise schreibt es mir. Ich muss mir vorstellen, wie er es sagen würde, denn unser Treffen für dieses Porträt musste aufgrund der Kontaktsperre zu Beginn der Coronapandemie ausfallen. Er würde es mit heller, klarer Stimme sagen, wahrscheinlich würde er ein bisschen zu schnell sprechen, aber mit sehr viel Überzeugung.

Töne also. Nicht den einen dramatischen Ton, sondern das Interesse für viele Töne. Sprache als unerschöpflicher Steinbruch, aus dem er alles raushauen kann. Als Kind mochte er Ruinen, assyrische Burgen, römische Säulen, alles, was Geschichte erzählt, aber eben nicht mehr perfekt ist, ein bisschen kaputt, offen, porös, schadhaft und rissig. In so einer Trümmerwelt aus Eindrücken und Geschichten arbeitet er, fängt Dinge an, lässt sie liegen, beginnt in Versen, endet im Dialog. „Wenn ich anfange, habe ich immer die Hoffnung, dass es alles sein könnte“, schreibt er. Was beliebig klingt, schärft sich im Prozess des Schreibens zur zwingenden Form und kann dabei vieles werden: Drehbuch, Liederabend, die Chronik seiner Familie, kryptischer Text, sperrige Lyrik oder eine Komödie.

„Ich versuche, mich nicht zu identifizieren, sondern zu spielen, verschieben, übersetzen, collagieren, verdichten. Außerdem gibt es so viele gute Sachen; wenn man da an einer Sache kleben bleibt, ist es schade. Dann muss man quasi mit Scheuklappen durch den Rest des Lebens. Das will ich nicht.“ Man glaubt ihm diesen unbedingten Wunsch, offen zu bleiben, sich immer wieder auf null zu justieren, den Begriff von Kunst und den von Autorenschaft für jede Arbeit neu zu fassen, mit 360-Grad-Blick auf seine Umgebung zu schauen, nicht einzurasten, beweglich zu bleiben. Als Autor, indem er unterschiedliche Genres bespielt, als Pendler zwischen Deutschland und der Türkei, der die Außen- und Innenperspektive auf seine Heimatländer im Wechsel einnimmt, als Enkel, Sohn und als Vater, das Erbe annehmend, die Geschichte seiner Familie fortzuschreiben. Dabei gibt es sie natürlich, die wiederkehrenden Begriffe und Motive, die Töne, die sich wiedererkennen lassen. Sie haben mit Heimat zu tun, mit Herkunft, mit Familie. Ambivalenzen allesamt. Denn eindeutig ist in Akın Emanuel Şipals Familiengeschichte nichts. Es gibt viele Wurzeln: deutsche, schlesische, türkische. Einen Uropa bei der Wehrmacht, eine Oma, die von Breslau nach Deutschland flieht; es gibt italienische, lettische und jüdische Vorfahren.

Was soll da Heimat sein? Gelsenkirchen? Istanbul? Adana? Machen ihn diese familiäre Disposition und die Tatsache, dass sich seine Familien- und seine Lebensgeschichte über mehrere Länder und Kulturkreise erstreckt, zum geeigneten Vertreter des sogenannten postmigrantischen Theaters? Ein sehr widersprüchlicher Begriff, wie er findet. Denn diverse Herkunfte sollten doch selbstverständlich sein. Einfach „direkt loserzählen, ohne groß den Kontext der Flucht- und Auswanderergeschichte erzählen zu müssen“, wünscht er sich, wohlwissend, dass sich das alles nicht so unbeschwert vom Tisch wischen lässt. Die Erfahrung der Marginalisierung gibt es. Daraus einen künstlerischen Ausdruck zu entwickeln ist nicht immer sein Antrieb, aber immer wieder ein starkes Motiv. Das deutsch-türkische Verhältnis spiegelt diese Ungerechtigkeiten wieder. „‚Türke‘ beschreibt im kollektiven Unterbewusstsein in Deutschland und in Europa das, was man nicht sein will“, und Akın Emanuel Şipal bezeichnet es als Lebensaufgabe, mit diesem Label klarzukommen. „Natürlich bin ich manchmal wütend und frage mich: Wo ist die türkische Literatur in Deutschland, wo ist die islamische Philosophie? Wo ist die türkische klassische Musik, die türkische Kunstmusik, die türkische religiöse Musik? Da ist so viel gutes Zeug, und in Deutschland ist kaum was angekommen. Was stört den Transport? Mein Großvater hat sein Leben lang deutschsprachige Literatur ins Türkische übersetzt, alles von Kafka, Hesse, Freud, Jung und viele mehr, über sechzig Bücher. Die Übersetzungen haben alle hohe Auflagen. Letztes Jahr ist er gestorben, und es ist auf Deutsch kein Nachruf erschienen, das Goethe-Institut in Istanbul hat nicht mal kondoliert. Sadstory.“ Warum ist der kulturelle Austausch so auf Sparflamme? In aller Vorsicht formuliert er eine These: „In Deutschland sind wir mit unserem brennenden Interesse für politische Missstände andernorts und unserer Obsession mit autokratischen Leadern ein bisschen monothematisch unterwegs, und es könnte sein, dass wir so diversen Ländern, unterschiedlichsten Menschen und Kulturen nicht gerecht werden.“ Wieder kann ich hören, wie Akın das sagen würde. Sehr fein, sehr höflich. Wie bei manchen Gerichten spürt man die Schärfe erst mal nicht. Aber sie wirkt nach.

Familie als Motiv, als Quelle fur sein künstlerisches Tun und für sein Schreiben. Akın Emanuel Şipal ist fasziniert vom Familienverbund als Speicher von Erfahrungen über die Zeiten hinweg, in den sich Zärtlichkeiten, Gewalttätigkeit, Rituale, Wissen einschreiben und unser Denken und Tun prägen. Von der Schicksalsgemeinschaft, vom Unausweichlichen, in eine ganz bestimmte, nicht zu verleugnende Geschichte hineingeboren zu sein. „Familien sind unendliche Geschichten, es wiederholen sich immer dieselben Muster. Alte Schlösser mit Gespenstern aus allen Generationen. Jede Familie hat ihr Thema, und das zieht sie durch, bis sie ausstirbt“, heißt es in Shirin & Leif, womit sich der Wunsch, ja nicht zu werden, wie die eigenen Eltern, dann auch erledigt hat. Eigentlich sind alle bisherigen Stücke von Akın Emanuel Şipal  Familiengeschichten. Das muss nicht zwangsläufig ein autobiografisches Schreiben sein. Bei seinem neuesten Stück Mutter Vater Land, das im Herbst in Bremen zur Uraufführung kommen soll, ist es das. Auch wenn das Autobiografische und das Fiktionale darin kunstvoll verschwimmen. Die eigene Familie wird hier zum Gegenstand. Überhöht. Ästhetisiert. Aber doch ganz sichtbar und real. Akın Emanuel Şipal wird zum Chronisten für hundert Jahre Familiengeschichte. Vier Generationen begegnen sich in Szenen, Anekdoten, Tiraden, Träumen und Rachefantasien. Fast hat man das Gefühl, alle bisher angeschlagenen Töne, alle Formen der dramatischen Verdichtung, mit denen der Autor bisher gespielt und experimentiert hat, sind in diesen Text geflossen. Wir werden ihm sehr gut zuhören.