Die vielen Stimmen meines Bruders

Vor einem Jahr war die Dramatikerin Magdalena Schrefel mit ihrem Theaterstück „Die vielen Stimmen meines Bruders“, das sie gemeinsam mit ihrem Bruder Valentin Schuster geschrieben hat, im Theater Bremen zu Gast im „Salon zu neuer Dramatik“. Wie schön, dass die Uraufführungsinszenierung nun beim Festival Mittenmang zu sehen ist. Theater Bremen-Dramaturgin Sonja Szillinsky hat mit der Regisseurin Marie Bues gesprochen.

Sonja Szillinsky: Seit eurer Premiere beim Kunstfest Weimar 2023 habt ihr viele Vorstellungen gespielt, wart zu zahlreichen Festivals eingeladen und es gibt sogar ein Hörspiel. Warum ist das Interesse an dieser Arbeit so groß?

Marie Bues: Ich glaube, es sind verschiedene Aspekte: Es ist zum einen das Thema – die Suche nach passenden Stimmen für eine Sprachassistenz für eine der beiden Figuren, die aufgrund eines Gendefekts die Stimme verlieren wird. Es ist eine Geschichte über jemanden, der sich in einer Transformation befindet und durch die Einschränkungen, die ihm widerfahren, neue Wege suchen muss in einer Gesellschaft, die dafür wenig hilfreich erscheint. Zum anderen findet diese Auseinandersetzung innerhalb einer Familie statt. Daran können viele Menschen anknüpfen, das schafft Zugänglichkeit. Im Text werden viele Fragen gestellt, die einem die Augen öffnen können in Bezug auf die Realität von Menschen mit Behinderung.

Wie ist es zu diesem Projekt gekommen?

Magdalena Schrefel und ich kannten uns aus einer früheren Zusammenarbeit und irgendwann erzählte sie mir, dass sie an einem sehr persönlichen Stück schreibe, in dem es um ihren Bruder und sie geht. In dem Text spielt sie auch mit der Frage, wie eine persönliche Geschichte fiktionalisiert werden kann. Die Ausgangslage ist real, beim Schreiben ist Magdalena jedoch immer mehr in die Fiktionalisierung gegangen, um über den politischen Aspekt des Textes auch im gesellschaftlichen Sinne sprechen zu können. Sie hat die Motive und entstehenden Szenen sehr genau mit ihrem Bruder Valentin abgesprochen. Daraus ist das dialogische Grundprinzip des Stückes entstanden: Die Geschwister im Stück gleichen ihre Fragen und Ängste miteinander ab – das hat mich sehr interessiert und ich habe mich gefreut, die Uraufführung gemeinsam mit meiner Co-Regisseurin Anouschka Trocker machen zu können. Anouschka ist Hörspielregisseurin, und wir waren beide überzeugt, dass sich der Text auch für ein Hörspiel sehr gut eignet.

In deiner Inszenierung gibt es neben den beiden Spieler:innen, die den Bruder und die Schwester spielen, auch eine Puppe auf der Bühne. Welche Funktion erfüllt sie?

Ich hatte das Gefühl, die Inszenierung müsste in erster Linie ein Gespräch zwischen den beiden Darsteller:innen sein und dann kommen mit der Zeit die verschiedenen Stimmen hinzu. Magdalena hatte die Idee, dass bestimmte Stimmen, die im Hörspiel vorkommen, auf der Bühne eine Repräsentation durch eine Puppe erfahren könnten. Die Puppe wird immer wieder zum Bild für den Bruder: Es gibt zum Beispiel eine Szene, in der sie seine Wünsche darstellt. Er wünscht sich Astronaut zu werden und dann fliegt die Puppe, während Leonard Grobien, der den Bruder spielt, über Schwerelosigkeit spricht. Hier schafft die Puppe also eine Bildhaftigkeit. Und sie kann sich ohne den Rollstuhl bewegen: laufen und rennen, also Verschiedenes, was der Bruder nicht kann. Die Puppe kann aber wie gesagt auch fliegen – was auch die Schwester nicht kann. Sie ist also auch ein unabhängiges Bild von einer anderen Körperlichkeit.

Das Motiv der Stimme ist sehr zentral in der Arbeit, einerseits durch die Suche nach Stimmen für die Sprachassistenz des Bruders, der sich für verschiedene Situationen unterschiedliche Stimmen wünscht. Andererseits ist es auch ein Bild dafür, die eigene Position vertreten zu können. In Bezug auf Repräsentationsdiskurse wird oft gefragt: Wer spricht für wen? Welche Rolle haben solche Überlegungen in eurer Arbeit gespielt?

Ja, ich finde auch, dass beide Ebenen in dem Stück stecken. Es ist einerseits sehr konkret, weil in dem Text der Verlust der Stimme durchgespielt wird, und zugleich geht es auch um Widerständigkeit: Dass die Tatsache, die Stimme zu verlieren, nicht dazu führt, dass man weniger hat als andere Menschen, sondern im Gegenteil. Der Bruder ergreift die Möglichkeit, sich mehrere Stimmen für unterschiedliche Situationen oder Anteile in sich zu schaffen. Darin liegt ein empowerndes Moment: Die Chance, etwas Neues für sich zu schaffen.

Welche Erfahrungen hast du als Regisseurin in dieser Arbeit gemacht?

Ich glaube, uns alle hat diese Arbeit total bereichert. Es war ein ständiges Dazulernen, in Bezug auf das Stück, aber auch in der konkreten Zusammenarbeit. Dadurch, dass wir einen Spieler mit Behinderung und eine Spielerin ohne Behinderung hatten, gab es immer wieder unterschiedliche Bedürfnisse bei den Proben oder auf Gastspielen.

Du bist seit zwei Jahren Teil des vierköpfigen Leitungsteams am Schauspielhaus Wien. Wie hat diese Beschäftigung deinen Blick in Bezug auf Leitungsfragen verändert?

Es hat zum Beispiel dazu geführt, dass wir hier bei uns am Haus einen Umbau beantragt haben, um die Spielstätte barrierefrei zugänglich zu machen. Es war gar nicht so leicht, die Gelder dafür zu bekommen, wir waren aber sehr hartnäckig und die Stadt hat irgendwann eingesehen, dass es nötig ist.

Das politische Klima und die Kulturpolitik verändern sich gerade stark. Unter anderem im Zuge von Kürzungen ist zu beobachten, dass die Finanzierung diversitätsfördernder Projekte in Frage gestellt wird. Wie blickst du auf die aktuellen Entwicklungen?

Ich habe natürlich auch die Befürchtung, dass schwer erkämpfte Errungenschaften – in verschiedenen Bereichen – zurückgenommen werden. Aber ich glaube, die einzige Chance ist, dass wir uns weiterhin dafür einsetzen, diese Räume offen zu halten und weiterzuarbeiten. Und ich habe den Eindruck, dass es viele in der deutschsprachigen Theaterlandschaft gibt, die es als Selbstverpflichtung angenommen haben, dass die Theater barriereärmer werden – nicht nur fürs Publikum, sondern auch für diejenigen, die daran beteiligt sein und einen professionellen Zugang erhalten wollen.

Veröffentlicht am 27. Mai 2025.