Und Istanbul zieht in den Garten…
Regisseurin Selen Kara spricht mit Dramaturgin Marianne Seidler über die verflossenen sechs Jahre seit der Premiere und den Umzug nach draußen.
Marianne Seidler: Istanbul ist seit der Premiere durchgängig im Repertoire des Theater Bremen und wurde an vielen anderen Theatern in Deutschland adaptiert. Konntet ihr diesen Erfolg erahnen?
Selen Kara: Istanbul war meine zweite Regiearbeit am Theater, damals vor sechs Jahren. Da rechnet man natürlich nicht damit, dass das so durch die Decke geht. Als Torsten Kindermann und ich diesen Abend entwickelt haben, hatten wir aber schon das Gefühl, dass so etwas in dieser Form noch nicht inszeniert wurde. Eine türkische Pop-Ikone deren Lieder von weißen Spieler*innen gesungen werden. Wir hatten das Gefühl, dass dieser Perspektivwechsel in Verbindung mit der Erzählung über Gastarbeiter*innen längst überfällig war. Vielleicht hat das einen Nerv getroffen. Wir haben versucht, eine Identifikationsfläche für beide Seiten zu finden. Es ist daher auch eine Einladung an die Menschen, die in der Stadt leben, vielleicht jeden Tag am Theater vorbeigehen, aber für die das Theater sonst nicht zugänglich ist. Weil ihre Geschichte nicht erzählt wird. In den Proben hatte ich oft meine eigene Familiengeschichte im Kopf und habe versucht diese Anekdoten mit einfließen zu lassen.
Vor sechzig Jahren schloss die BRD mit der Türkei das Anwerbeabkommen. Ihr macht in eurem Stück die Einladung, sich in die Rolle der Ankommenden zu versetzen.
Selen Kara: Ja, was diesen Aspekt angeht, hätte man noch weiter erzählen können. An diesen Twist den wir inhaltlich gemacht haben, schließen sich viele Fragen an. Wie ist es nun für die nächste Generation? Sprich, meine Generation? Die dritte oder auch die vierte? Man könnte sich fragen, wie man diese Geschichte für die Generation erzählt, die Teil der deutschen Gesellschaft ist und sich zugehörig fühlt. Wie wäre dieser Abend weitergegangen?
Hast du denn das Gefühl, dass der Abend dennoch für sich steht oder fehlen dir bei der Draufsicht nach den sechs Jahren einige Themen? Darf Istanbul dieser Liederabend sein, für sich stehend, und man diskutiert in anderen Räumen über die sich anschließenden Punkte?
Selen Kara: Über diese Frage freue ich mich. Ja, ich glaube der Abend kann für sich stehen und dennoch habe ich das Gefühl, wir haben zu wenig darüber hinaus gesprochen. Liederabende werden oft abgestempelt als „zweite Klasse“. Ich denke aber, dass Liederabende mehr vermitteln können. Der Abend hat auch eine politische Komponente, das kommt medial manchmal zu kurz. Der Text wurde damals damals im Team in den Proben entwickelt, es war ein schneller Prozess. Natürlich würden gewisse Themen, heute sechs Jahre später, einen ganz anderen Platz bekommen. Dennoch bietet der Abend auch, so wie er ist, genug Anschlüsse an eine größere Debatte. Unsere Grundfrage war ja: Warum wissen wir so wenig voneinander? Istanbul war der Versuch einer Art Annäherung. Das ist auch das, was uns als Feedback des Publikums immer wieder erstaunt und glücklich macht. Diese Annäherung scheint geglückt zu sein.
Momentan stellen sich viele Künstler*innen und künstlerische Institutionen ja die berechtigte Frage nach Repräsentation. Wer kann aus welcher Position sprechen und für wen? In unserem Ensemble gab es keine Spieler*innen mit türkischer Migrationsgeschichte. Ihr habt euch dazu entschieden, dass genau das der Twist sein kann. Deutsche Figuren reisen nach Istanbul als Gastarbeiter*innen und singen türkische Lieder. Da hat eine gewisse Konsequenz.
Selen Kara: Das Theater Bremen hatte keine türkischen Spieler*innen. Ich bin froh, dass es nun Gang und Gäbe ist, sich damit auseinander zu setzen. Gerade als deutsch-türkisches Team, ging es uns darum, unsere Geschichte verdreht zu erzählen, ohne Klischees zu bedienen. Wir haben viele Gespräche geführt und Auf dieser Ebene sind authentische Erfahrungen eingeflossen.Was die Bildung der Ensembles angeht, ändern sich glücklicherweise aber die Strukturen an den Theatern.
Machen wir einen Sprung. Wie ist die Situation bezüglich Corona momentan für deine und eure Arbeit?
Selen Kara: Ich hatte das Glück, weiterhin auch an Häusern vor Ort arbeiten zu können. Wir haben in Dortmund gearbeitet, am Schauspielhaus Bochum und nun zuletzt in Mannheim. Da habe ich Romeo und Julia auf einem Truck inszeniert. Das wird dann Mitte Juni draußen zu sehen sein.
Das habt ihr aber drinnen geprobt. Ist denn Istanbul deine erste Arbeit die du draußen wieder aufnimmst und der Umgebung anpasst? Machst du dir Sorgen, dass das Gefühl der Nähe zu kurz kommt?
Selen Kara: Ja, tatsächlich ist das meine erste Arbeit komplett draußen. Ich glaube aber, dass wir dieses Gefühl von Gemeinschaft auch ohne die physische Nähe herstellen können. Wir als großes Team freuen uns auch unglaublich nach so langer Zeit wieder zusammen zu kommen! Wir freuen uns sehr, diesen Abend mit dem Publikum unter freiem Himmel zu erleben.