Karriere kann man auch einfach sein lassen

Ein Porträt des Musiktheaterregisseurs und Mitarbeiters im Marketing Lennart Hantke von Simone Sterr

Natürlich kommt er zu spät. Alles andere wäre übernatürliche Zauberei gewesen. Morgens noch die neuesten Texte für’s Online-Magazin geladen, dann ab zur Probe für Pariser Leben, im Anschluss schnell durch die Foyers gespurtet, um die Sammlung der Plüschtiere für die Tanz-Produktion Young dogs do cry sometimes zu fotografieren und auf Instagram zu posten.

Aber jetzt ist er da. Forsch. Fröhlich. Gar nicht so müde, wie es ein Leben zwischen Schreibtisch und Regiepult, Kunstanspruch und Publikumserwartung, Redaktionsschluss und Premierendruck erwarten ließe. Lennart Hantke ist Musiktheaterregisseur und Marketingmitarbeiter. Gleichzeitig. Wie passiert denn sowas?

Das Verhältnis zwischen Bühne und Zuschauerraum neu denken

„Seit meinem 9. Lebensjahr stecke ich drin im Opernbetrieb. Da war’s an der Zeit, mal auszusteigen, was Neues zu machen und etwas mit Struktur zu lernen. Und weil ich krasser Ästhet bin und mich dafür interessiere, dass die Kunst nah zu den Menschen kommt, ist Marketing das Richtige“. Wer nun denkt, Lennart Hantke ist Mitte vierzig und überwindet gerade die erste Midlifecrisis liegt komplett daneben. Er ist 27, hat im zarten Alter von fünf Jahren angefangen, Geige zu spielen, Klavier zu lernen, spielte im Orchester und sang als Knabensolist. „Ich hätte Sänger werden können, aber irgendwann war die Unbeschwertheit, mit der ich mich als Kind vor 800 Zuschauer*innen stellen konnte, dahin.“
Er wollte nicht mehr auf die Bühne. Herrenschneider hätte er noch werden können. „Aber ich kann nicht nähen!“ Schlecht. Also hospitierte er. Unter anderem bei der Opernregisseurin Elisabeth Stöppler und ging nach dem Abitur mit ihr als Assistent an die Semperoper Dresden – „ein perfekter, hochproduktiver Apparat, eine ganz wichtige Station für mich“. Er begann ein Studium für Musiktheaterregie in Hamburg. Sein Gastdozent Benedikt von Peter überredete ihn, das Studium zu vergessen und mit nach Bremen zu kommen, wo von Peter seine Ideen eines modernen, dem Publikum zugewandten Musiktheaters im Stadttheaterbetrieb austesten wollte und das mit dem damals frisch gebackenen Intendanten Michael Börgerding auch durfte. Das Verhältnis zwischen Bühne und Zuschauerraum neu zu denken, das Theatererlebnis als gemeinsame Erfahrung zwischen Agierenden und Zuschauenden zu begreifen, prägt Lennart Hantke bis heute.

Bedingungsloser, niederschwelliger, unmittelbarer

„Die Inszenierung von Aufsteig und Fall der Stadt Mahagonny war ein Meilenstein im Denken für mich. Es hat meinen Blick auf’s Musiktheater verändert“. Und darauf, in welche Richtung sich das Musiktheater verändern muss. Das sollte bedingungsloser werden, niederschwelliger, unmittelbarer. Und dafür muss es raus. Raus aus dem Guckkasten. Und das Publikum mit ihm. Raus aus der Komfortzone. Raus aus dem Theatersessel. Für den jungen Regisseur hieß das: runter in den Brauhauskeller; zu MOWGLI mit Patrick Zielke und mit nach Luzern, als Benedikt von Peter dort Intendant wurde. Lennart Hantke inszenierte Hänsel und Gretel von Humperdinck und Karneval der Tiere als experimentelle Arbeiten in der Box und bekam mit Feeling Gatsby – Ein Jazz-Requiem nach Scott Fitzgerald und Die Großherzogin von Gerolstein von Jacques Offenbach den ganz großen Raum und den dazugehörigen Apparat. Der steht ihm auch in Bremen zur Verfügung. Beinahe schon eine Tradition, dass er dort die Silvestergala inszeniert. Das war Michael Börgerdings Bedingung, als es um die Aufgabe als Mitarbeiter im Marketing ging. Job gegen Gala.

Pariser Leben – Eine Gala

Bisher wurden die Zuschauer*innen zielsicher nach Italien entführt. In diesem Jahr geht es nach Paris. Stadt der Sehnsucht, der Liebe, der Musik: Pariser Leben. Für den Chor des Theater Bremen, die Bremer Philharmoniker und fünf Solist*innen des Musiktheaterensembles entsteht ein Potpourri von Puccini bis Piaf, bei dem Jacques Offenbach natürlich auch nicht fehlt: „Stürzt Euch hinein ins tolle Leben / mitten hinein ins Paradies / alle Freuden sind euch gegeben / nur im herrlichen Paris“. Raus aus der Komfortzone könnte anders klingen. Lennart Hantke ist unentschieden. Das macht Hoffnung. Vielleicht meint er es ja doch nicht ganz so ernst mit der Karriereverweigerung.

Und was wünscht er dem Publikum zum neuen Jahr? „Weniger Drama. Mehr Gelassenheit“.

Und was wünscht er sich für seine Zukunft? „Ein Familienhaus mit Labrador in der Zentralschweiz“, sagt er, schmunzelt und muss zur Probe.

Wer nun denkt, Lennart Hantke ist inzwischen Mitte fünfzig und raus aus der Krise, liegt wieder komplett daneben.