Leseprobe: „Lila Eule“ von Cordt Schnibben
Vor dem großen Release im Theater am Goetheplatz stellt der CORRECTIV Verlag freundlicherweise eine Leseprobe aus Lila Eule von Cordt Schnibben zur Verfügung.
Kapitel 1
Leider war ich klüger, als ich aussah
Liegt es daran, dass ich mich begraben fühle unter der Mauer, die letzte Nacht zusammengefallen ist? Wenn jemals bekannt wird, dass ich an diesem Morgen, an diesem historischen Morgen, vor der abgeschrammten Glastür eines vollkommen bedeutungslosen Plattenbaus stehe und nach einer Frau suche, nach dieser Mara, dann werden meine Chefs mich wohl feuern. Es sei denn, ich finde die Story, die alle zu Tränen rührt.
Der Anruf gestern Abend kurz nach den „Tagesthemen“ war eindeutig: Carl, flieg morgen früh nach Berlin, nimm dir am Flughafen Tegel einen Mietwagen mit Funktelefon, wichtig: mit Funktelefon, fahr rüber in den Osten und bring uns die beste Story über den Mauerfall.
Neben mir saßt du in diesem Moment, wir hörten in den „Tagesthemen“ den Spruch „Die Tore in der Mauer stehen weit offen“. Weil meine Hand deinen Nacken streichelte und deine schweren Locken ordnete, merkte ich, dass du gemerkt hast, dass seit dem Anruf in meinem Kopf die Suche begonnen hatte. Ich spürte deine Enttäuschung, aber ich sprach lieber mit mir als mit dir. Ich gehöre zu den Männern, die über sich lieber mit sich selbst reden als mit anderen Menschen. Das macht das Leben einfacher, einerseits; und es macht das Leben komplizierter, andererseits; vor allem dann, wenn man nicht gern allein ist.
Seit die Leute da drüben zu Zehntausenden auf den Straßen marschieren, zieht Mara mit Spruchbändern durch meinen Kopf, ich versuche, sie zu verscheuchen, aber sie belagert meine Gedanken wie ein lange verschwundener Hund, der nun im strömenden Regen unten im Garten steht.
Du willst wissen, was mit dieser Mara ist. Du hältst sie für eine gefährliche Frau, das spüre ich. Aber Mara war ja wunderschön weggesperrt hinter der Mauer, bis um 23 Uhr an diesem Abend, an dem du und ich zusammen fernsahen, eine Flasche Côtes du Rhône leerten und hofften, uns mit ein wenig Sex trösten zu können.
Für mich ist die Sache mit Mara eine unvollendete Liebe, ja, aber vor allem ist sie eine gestohlene Liebe. Die ich mir jetzt zurückholen kann. Der Staat, der sie mir gestohlen hat, kann mich nicht mehr daran hindern. Bitte nicht falsch verstehen, Frances, ich bin kein Mann, der 17 Jahre lang jeden zweiten Tag an eine Frau denkt, die 400 Kilometer entfernt in einem Plattenbau sitzt und Ostfernsehen schaut. Aber nun sitzt sie wieder in meinem Kopf.
Was ich von Mara will, kann ich dir das sagen? Erfahren, was aus ihr geworden ist? Das ja. Sie benutzen, um an Storys zu kommen? Ja klar. Das habe ich dir gesagt. Aber darüber reden, was mich mit Mara verbindet? Geht das?
Vor 17 Jahren bin ich in Ost-Berlin immer mit der S-Bahn gefahren, am Tag nach dem Mauerfall habe ich das Haus an der Jannowitzbrücke mit meinem BMW angesteuert. Auf der Fahrt vom Flughafen stellte ich mir vor, wie Mara auf den 730i blicken wird, in Grünmetallic, mit beigen Ledersitzen und Funktelefon. Es war der letzte Wagen, den ich am Flughafen mieten konnte. Ich war froh darüber, heute Morgen an meine Sonnenbrille gedacht zu haben, die riesige Ray-Ban schützte mich vor der tief stehenden Morgensonne.
Ist Mara noch immer so leicht zu beeindrucken durch westliche Spitzenprodukte? Oder inzwischen angewidert von westlicher Dekadenz?
Am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße hätte ich freie Fahrt gehabt, wenn nicht Tausende Berliner auf der Fahrspur hinein in die DDR der Trabi-Kolonne hinaus aus der DDR zugejubelt hätten. Die Grenzer winkten mich durch den Slalomparcours, bereits ermüdet von dem Gefühl, überflüssig zu sein, schon gestreift von dem Gedanken, jetzt ja mal auf so einen BMW sparen zu können?
Als ich den letzten Schlagbaum des Grenzübergangs passierte und auf der Leipziger Straße an der langen Schlange der ausreisenden Trabis entlangfuhr, begann mich der Gedanke zu plagen, sie könnte in einem der Trabis gerade rüber in den Westen fahren. Aber sie wird nicht zu denen gehören, die losstürmen wie Windhunde.
Ich parkte den BMW lieber 50 Meter vor dem Haus. Maras Familienname entdeckte ich unten am Briefkasten in der Holzmarktstraße 2 und an der Klingel, zweite Reihe von links, neunte Wohnung von unten, wie damals. Das reicht mir, ich habe befürchtet, sie lebt nun in Moskau, Hanoi oder Havanna.
Die Haustür fliegt auf, drei Mädchen drücken sich an mir vorbei, schwarz gekleidet, als seien sie auf dem Weg zu einer Beerdigung, gut gelaunt und verkatert wie viele an diesem Morgen. Die Größte dreht sich zu mir, ruft ihren Freundinnen zu: „Guck mal, jetzt sind die Wessis schon bis zu uns vorgedrungen.“ Ich trage meine kanadische Fliegerjacke aus abgeschabtem Leder.
„Kennt ihr Mara, die wohnt im neunten Stock?“
„Ich wohne im zwölften“, sagt die Große mit den Pausbacken und dem großen schwarzen Hut, „aber die kennen wir nicht.“
„Mara Wege?“
Die drei Mädchen schauen sich fragend an, die Große macht eine leichte Kopfbewegung in Richtung Straße.
„Hey, was ist los, kennt ihr sie?“
Aber da sind sie schon zu weit weg.
Wenn ich damals, vor 17 Jahren, meist abends, hier stand und klingelte, fühlte ich mich wie ein Eindringling, aber ich war auch stolz darauf, in Ost-Berlin ein wenig zu Hause zu sein.
Ich habe Mara seit der Nacht, in der mich ihr Vater hinauswarf, nicht mehr gesehen, na ja, einmal schon noch. Ihren Blick habe ich jetzt wieder vor Augen, traurig zwar, aber gewöhnt daran, dass das Leben nicht so läuft, wie man möchte. Das große Ganze immer wichtiger finden als den schönen Moment des Glücks, der Trost aller Kommunisten: Irgendwann sind wir am Ziel, und das lohnt jede Entbehrung.
Geschrieben haben wir uns nicht in all den Jahren, das kannst du mir glauben, Frances, telefoniert sowieso nicht, deshalb weiß ich nicht, ob Mara hier noch wohnt.
In den schlaflosen Nächten, in denen wir über ihre Träume sprachen, über meine Träume sprachen wir nie, sah sie sich im diplomatischen Dienst, in den Hauptstädten der Welt. Diplomatin zu werden, als Tochter eines Stasi-Offiziers im Westeinsatz, das schien ihr nicht schwierig; und sie sprach Russisch und ein wenig Spanisch. Ihre ukrainische Mutter hatte ihr die Lockenpracht vermacht.
Vorher, bei den vier Mädchen, mit denen ich befreundet gewesen war, hatte ich meine „Bilanz“ aufgestellt, so hatte ich das genannt, also Soll und Haben aufgelistet: Was bringt mir dieses Mädchen, und was muss ich ihm bieten, damit die Liebe eine Chance hat?
Mara brachte mich zum ersten Mal dazu, über mich selbst die Bilanz zu eröffnen. Was bringe ich ihr, warum kann sie mich lieben? Was meinen Körper anging, machte ich mir nichts vor, schlaksig, Gesicht fast ohne Pickel, das war’s schon, na gut, rote volle Haare, schulterlang. Leider war ich klüger, als ich aussah; was dazu führte, dass ich immer schlauer wirken wollte, als ich war. Und leider sah ich oft so aus, als langweilte ich mich. Aber: Ich hatte mir bei der Tramptour nach London rund um die Carnaby Street die Hemden und Hosen besorgt, die in Ost-Berlin maximale Aufmerksamkeit garantierten.
Als ich im Kellerclub des „Hauses der jungen Talente“ mal wieder darauf wartete, dass mich ein Mädchen fragte, wo es diese Hemden mit den riesigen Kragen gebe, kam nicht irgendein Mädchen, sondern sie an mir vorbei und wollte wissen, wann das Konzert der Singegruppe Oktoberklub beginnen sollte. „Gegen neun Uhr“, wollte ich sagen, aber mir fiel zu spät der Rat der Logopädin ein, jedes Wort mit g und k zu vermeiden.
Meine Zunge stieß gegen den Gaumen, verkrampfte sich. So stand ein schlaksiger, rothaariger Kerl aus Bremen mit blumigen Schlaghosen vor einer neugierig lächelnden jungen Frau, die ihre FDJ-Bluse zwei Knöpfe zu weit geöffnet hatte und deshalb wohl glaubte, diesen komischen Rockstar zum Stottern gebracht zu haben. Steh nicht so krumm, sagte ich mir, dann ist sie wenigstens nicht größer.
Wir tranken zwei Berliner Pilsener, schwänzten den Oktoberklub, redeten stattdessen über die Rolling Stones, weil an meinem Hemd ein Button mit der Stones-Zunge klebte. Ich fabrizierte die erste kleine Lüge: „Ich arbeite seit dem Abi in der Redaktion des ‚Beat-C-c-c-c-club‘ mit.“
Wenn ich am Morgen nach dem Mauerfall zurückdenke an diese ersten Minuten unserer Liebe, erinnere ich mich so genau, dass ich einen Spielfilmdialog schreiben könnte.
Mara sagte nicht: „Oh, biste aus dem Westen?“
Oder: „Wo gibt’s diese Sticker?“ Oder: „‚Beat-Club‘ können wir leider nicht sehen.“
Sie sagte: „Was Besseres als den Tod finden wir überall …“
Ich antwortete: „Du willst hier weg?“
„Wie kommst du darauf?“
„Klingt so …“ „Nee, musste doch kennen, ist von den Bremer Stadtmusikanten.“
Eine aus dem Osten kennt das Märchen, dachte ich und sagte: „Den Sticker hab ich in London besorgt.“ Und war froh darüber, „gekauft“ vermieden zu haben.
Sie antwortete: „Ick verstehe diese Zunge nicht, verstehst du sie?“ Mir war es peinlich, ich verstand die Zunge auch nicht. Bevor ich was sagen konnte, war sie im Kopf schon weiter.
„Mein Lieblingssong der Stones ist ‚Gimme Shelter‘, hab ick mal auf Rias gehört.“
Rias? Westradio, also eine ganz harte FDJ-Frau scheint sie nicht zu sein, dachte ich. Bevor ich fragen konnte, warum „Gimme Shelter“, schoss sie die Antwort auf meine Frage ab. „Kann man schön zu abstampfen …“
„Abstampfen“, schönes Wort, dachte ich damals. Und verwende es bis heute, wie du weißt. „Und die Sängerin finde ich fein …“ Sie meinte die Backgroundsängerin. „Fein“ war ihr Superlativ für gut, großartig, perfekt.
Was mir an Mara sofort auffiel: ihre Augenbrauen, kräftig, sehr dunkel, aber vor allem katzenhaft schräg. Zur Nase verdünnte sich die linke Augenbraue zu vier einzelnen Haaren. Die Braue zog sie hoch, wenn sie zuhörte, das gab ihr einen wachen, neugierigen, leicht arroganten Gesichtsausdruck. Ihre grünen Augen unter den Brauen musterten mich spöttisch, darum zweifelte ich, als sie am Ende des Abends vorschlug, mich zwei Tage später vom Partei-Internat abzuholen. Die kommt nie, verlass dich auf nichts, rechne damit, dass Menschen verschwinden, so war ich damals drauf. Bin ich immer noch, du weißt, ich rechne immer damit, dass du abhaust.
Und Mara? Mara ist so misstrauisch gewesen wie ich, hat sie mir später gesagt, ganz die Stasi-Offizierstochter, die Mahnungen ihres Vaters im Ohr; sie wollte nicht auf einen westdeutschen Kerl hereinfallen, dem es vielleicht um was ganz anderes ging als um ein Mädchen aus Ost-Berlin. Darum verabredete sie sich mit mir vor dem Partei-Internat. „Karl-Marx- Universität Leipzig, Franz-Mehring-Institut, Außenstelle Berlin“, sagte das Schild am Tor in Berlin-Biesdorf, am Rapsweg. Das war gelogen. „Wladimir-Lenin-Parteischule zur Dogmatisierung westdeutscher Linker“ wäre ehrlicher gewesen, die wollten aus uns westdeutschen Hippies und Linksradikalen stramme Kommunisten machen. Mara war früher gekommen als verabredet, so konnte sie mich vom Pförtner rufen lassen.
Ihr schneller Begrüßungskuss auf meinen Mund war so etwas wie das Wahrheitssiegel, der Sieg über das Misstrauen. Für sie. Und für mich? Es konnte losgehen.
Jetzt, vor ihrer Tür, versuche ich, mir ihr Gesicht von damals wieder vorzustellen, das verliebte Gesicht eines Mädchens, das dir sagt: Entspann dich, das kann was werden mit uns.
Dass ich 17 Jahre später ihren Namen in den langen Reihen der Klingeln finde, ist mir wichtiger als das, was ich gestern Abend im Fernsehen sah. Mir war dieser Jubel nicht geheuer, da war diese Enttäuschung, dass etwas passierte, was mich ins Unrecht setzte. Kommunist war ich schon lange nicht mehr, wie du weißt, aber aus dem Staub der Mauer kriecht die Frage, warum ich mal Kommunist gewesen war. Die Mauer in der Nacht, die war auch auf mich gefallen; ich hätte mir den Staub von der Jacke schlagen müssen.
Ich klingle ein weiteres Mal. Ich rechne nicht damit, dass mir eine strahlende Mara um den Hals fällt. Ich stelle mich darauf ein, sie trösten zu müssen. Konnte sie in knapp zwei Jahrzehnten zur Regimegegnerin geworden sein? Ein bisschen Dissidententum, okay, aber immer noch den besseren Sozialismus vor Augen, den es irgendwann, irgendwo geben wird. Oder inzwischen doch mehr vom besseren Leben überzeugt als von der besseren Gesellschaft?
Willst du das wirklich alles wissen, Frances? Gibt es nicht in jeder Beziehung das Ungesagte, das die Beziehung erst möglich macht? Die stumme Wahrheit, die so sehr schmerzt, dass sie lieber ungesagt bleibt? Du hast mir erzählt, wie du es mal hinten im Kombi eines Lada mit einem russischen Zehnkämpfer getrieben hast, seither machen mir russische Zehnkämpfer und Lada-Kombis schlechte Laune.
Ich solle doch mal aufschreiben, worüber ich mit mir rede, wenn ich nicht mit dir rede, hast du mir am Anfang unserer Beziehung mal vorgeschlagen, lästernd darüber, dass ich so wenig mit dir über mich redete. In dir steckt mehr als ein Journalist, hast du mir gesagt, mach mehr aus dir, schreib Drehbücher, schreib Romane, hol mehr aus dir heraus, in dir stecken viele Geschichten, mehr, als du denkst. Was für ein blöder Vorschlag, hab ich damals gedacht, über mich selbst schreiben? Als Reporter sucht man die Wahrheit über sich im Leben anderer Menschen, jede Reportage ist der Versuch, etwas über sich zu erfahren, ohne über sich zu schreiben. Aber vielleicht hast du recht, vielleicht hilft uns beiden das, vielleicht hilft es mir, zu verstehen, was damals mit mir los war. Aber wird dir gefallen, was du liest?
Ich klingle ein drittes Mal, stöbere in den Unterhaltungen unserer gemeinsamen Nächte. Auf dem Weg zur Jannowitzbrücke sah ich mich mit Mara in den Ledersitzen, freute mich auf ihren Spott, Che aus Bremen im BMW, mit Autotelefon, dieser Blick aus den Augenwinkeln, mit dem sie prüft, ob sie ihren Spott noch weiter treiben sollte; sich gegenseitig vergewissern, ob wir nett gealtert oder vielleicht fett geworden sind, ob wir mögen, was wir tragen, ob wir grau sind oder gefärbt, ob wir zynisch sind oder vom Leben erschöpft; unsere Gedanken würden sich vielleicht wie damals duellieren, wir würden uns die Sätze zuwerfen wie früher, und irgendwann mitten im scharfen Duell würde sie sagen: „Du stotterst nicht mehr, was ist passiert?“
LILA EULE – DIE SHOW
Wie der Beat nach Deutschland kam
Mit SPIEGEL-Bestseller-Autor Cordt Schnibben und Schauspieler:innen des Ensembles
veranstaltet von CORRECTIV
Präsentiert von Bremen Zwei.
Fr 23. Mai um 20 Uhr im Theater am Goetheplatz. Weitere Informationen finden Sie hier.
Veröffentlicht am 5. Mai 2025.