„Love is the greatest vessel“
Gregor Runge, künstlerischer Co-Leiter der Tanzsparte, im Gespräch mit den Tänzer:innen Maria Pasadaki, Waithera Lena Schreyeck und Csenger K. Szabó zur Premiere von Diamonds, einer neuen Arbeit von Renan Martins und Unusual Symptoms.
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In den letzten Wochen habt ihr euch viel mit Fragen nach Verbundenheit, Gemeinschaft und Miteinander beschäftigt. Wie verbunden fühlt ihr euch jetzt gerade miteinander miteinander? Habt ihr euch während der Proben auf eine Weise kennengelernt, die sich von anderen Produktionen unterscheidet?
Maria Pasadaki: Ja, für mich kann ich das ganz klar sagen. Ich bin jetzt seit zwei Jahren Teil des Ensembles und habe das Gefühl, dass ich in den letzten Wochen mehr mit manchen Menschen gesprochen habe als in der ganzen Zeit davor. Der ganze Prozess hat so viele Gesprächen angeregt. Über Verbindung und Beziehungen zu sprechen, sie aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, sei es theoretisch, durch den Tanz oder gesellschaftlich, schien mir nicht möglich, ohne diese Beziehungen tatsächlich zu kultivieren.
Waithera Lena Schreyeck: Als Gasttänzerin zu dieser Gruppe zu stoßen, war für mich sehr schön, weil ich zunächst einen Blick von außen auf eine bereits bestehende Struktur werfen und dann dabei zusehen konnte, wie diese sich im Laufe des Prozesses weiterentwickelt hat. Ich hatte das Gefühl, dass sich innerhalb der Gruppe viele Dynamiken verschoben haben und sich neue Verbindungen und Perspektiven auftaten. Ich lernte die Gruppe auf eine ganz andere Art und Weise kennen als bei vielen meiner Projekte in der Freien Szene, bei denen die Leute dazu neigen, auf Distanz zu bleiben, weil man sich bei jeder neuen Kreation neu kennenlernen muss.
Csenger K. Szabó: In früheren Arbeiten sind wir eher von individuellen Aufgaben und Interpretationen bestimmter Ideen ausgegangen und haben dann auf die kollektive Erfahrung hingearbeitet, ein Stück zu bauen. In diesem Fall war es jedoch von Anfang an eine kollektive Reise. Das Risiko, Dinge zu sagen, die man normalerweise nicht so einfach mit anderen teilen würde, war plötzlich kein Risiko mehr. Normalerweise gibt es in einem kreativen Prozess immer Momente der Reibung, man spürt Spannungen mit einigen Leuten und fragt sich, warum es nicht funktioniert. Aber die Art und Weise, wie Renan diesen Prozess begleitete, schuf eine kollektive Verantwortung, die es leichter machte, diese Reibungen zu überwinden.
Ein Stück zu schaffen und gleichzeitig all das zu kultivieren, was ihr gerade gesagt habt -– war das nicht eine Herausforderung?
Maria Pasadaki: Die Tatsache, dass unsere sozialen Bindungen im Vergleich zu anderen Kreationen diesmal so weit reichten, ließ bei mir manchmal die Frage aufkommen, ob wir Freund:innen waren, die an etwas Wichtigem arbeiteten, das wir mit der Welt teilen wollten, oder ob wir nur versuchten, die Welt dazu zu bringen, uns so zu sehen, wie wir sind – was ein wenig selbstverliebt geraten kann. Es gab Zeiten, in denen ich mir Sorgen gemacht habe, ob es jetzt darum ging, den Spaß zu teilen, den wir hatten, oder eine Erfahrung zu schaffen, die darüber hinausgehen würde.
Alles, was ihr gerade geschildert habt, wurde durch unsere gemeinsame Lektüre von bell hooks‘ Buch All About Love: New Visions inspiriert, das eine wichtige Inspirationsquelle für die Arbeit an Diamonds war. Wie haben diese Texte und Gedanken eure Arbeit konkret beeinflusst, welche Strategien oder Werkzeuge habt ihr daraus übernommen?
Waithera Lena Schreyeck: Es hat mich persönlich inspiriert, diese kollektive Verantwortung für die Schaffung von Gemeinschaft zu erkennen und sie im Gespräch zu erarbeiten. Was bedeutet Verantwortung? Für welche Handlungen bin ich verantwortlich, jene die ich tue und jene, die ich nicht tue? Welche Gespräche sollte ich führen? Das Nachdenken darüber, wie man mit anderen umgeht, war eines der wichtigsten Dinge, die ich mitgenommen habe.
Maria Pasadaki: Ich weiß nicht, wie viel Material unsere Lesungen aus dem Buch tatsächlich hervorgebracht haben. Aber es fügte dem, was wir im Studio produziert haben, eine wichtige Qualität hinzu. Diese Überlegungen, wie wir einander Raum geben und uns gegenseitig unterstützen können, wurden sehr schnell zu einer körperlichen Sache. Es ging nicht um performative Handlungen wie „Oh, ich bin jetzt nett zu meinen Kollegen“. Es war eher so, dass Renan das, was wir tun, durch die Linse des Buches betrachtete und dann von diesem Punkt aus konkreter wurde, sehen wollte, wie es tatsächlich aussieht, jemanden zu verlieren, jemanden zu umarmen oder auf jemanden zu warten.
Csenger K. Szabó: Im Buch geht es darum, was Liebe nach bell hooks wirklich ist oder sein kann. Es hat uns also eine Linse gegeben, durch die wir uns mit einer Art realistischer Sicht darauf, was Liebe ist, aufeinander beziehen können. Wir erkennen, dass Liebe, Beziehungen und Verbindungen nicht für alle gleich sind. Im Stück laden wir das Publikum ein, mit uns auf eine Reise durch ein breites Spektrum von Emotionen zu gehen, durch Bilder von Freude und Vergnügen ebenso wie durch Bilder von Schmerz und Gewalt, Trauer und Erschöpfung – allesamt sehr körperliche Empfindungen.
Diamonds wendet sich auf sehr konkrete Weise an das Publikum auf der Bühne, durchbricht die formale Trennung zwischen Publikum und Tänzer:innen und zielt darauf ab, ein anderes Gefühl von Gemeinschaft im Theaterraum zu schaffen. Ich habe den Eindruck, dass dieses Interesse unter zeitgenössischen Tanzschaffenden seit der Corona-Pandemie wächst. Wie sehr identifiziert ihr euch als Performer:innen mit diesem Interesse?
Waithera Lena Schreyeck: Ich bin mir nicht sicher, inwiefern diese Tendenz mit der Pandemie zu tun hat. Ich habe das Gefühl, dass es einen generellen Wunsch gibt, verschiedene hierarchische Strukturen zu betrachten und zu überlegen, wie man sie überwinden kann. In unserer Gesellschaft gibt es so viele Klüfte, die wir zwischen uns geschaffen haben. Und natürlich gab es mit der Pandemie eine weitere kleine Hürde, die überwunden werden musste, um einander nahe zu sein. Aber es gibt auch noch eine Menge Dinge, die uns voneinander entfernen, die wir noch gar nicht entdeckt haben.
Csenger K. Szabó: Es gab Isolation, es gibt Krisen. Die Art und Weise, wie wir im öffentlichen Raum zusammenkommen, neu zu überdenken, ist vielleicht ein Versuch, bestimmte starre Strukturen und Vorstellungen aufzubrechen, die zu lange als selbstverständlich galten und zu einigen der vielen Krisen geführt haben, mit denen wir heute konfrontiert sind. Als Tänzer frage ich mich, was Tanz vor dreißig Jahren bedeutet hat und was er heute in verschiedenen Kontexten bedeutet. Im zeitgenössischen Tanz haben wir heute eine ziemlich offene Vorstellung davon, was Tanz sein kann. Und dennoch fand ich es fantastisch, mit diesem Thema zu arbeiten, denn wenn echte Liebe bedingungslos ist, kann dann auch der Tanz bedingungslos sein? All das ist in diesem Stück sehr präsent, wir verwandeln und erleben das Material auf sehr lebendige Weise und schlagen damit eine Brücke zum Publikum. Es gibt diese romantische Vorstellung, dass Künstler:innen irgendwie über den Dingen schweben. Ich denke, es ist schön, das zu durchbrechen.
Wenn ihr euch in der Welt umseht, wie wichtig ist es eurer Meinung nach, sich mit dem Thema Liebe zu beschäftigen?
Csenger K. Szabó: Die Liebe ist das größte Gefäß. Man kann wortgewandt sein, seine Gedanken mitteilen, aber trotzdem nicht verstehen, was man denkt. Du kannst etwas in einem Buch lesen, aber trotzdem nicht verstehen, was darin steht. Du kannst an etwas glauben und trotzdem allein sein. Man kann die Hoffnung haben, dass etwas besser wird, aber man ist noch nicht am Ziel. Und ich denke, wenn man die Liebe findet, ist es etwas, durch das man sich vollkommen fühlt, zumindest meiner Erfahrung nach. Wir leben in einer Zeit der atomisierten Individuen und Egos. Die Liebe erinnert uns an die Tatsache, dass wir leicht die Verbindung zu dieser Welt verlieren können, wenn wir nicht mit anderen Menschen in Kontakt sind und unsere Körper in Beziehung zu anderen Körpern spüren.
Waithera Lena Schreyeck: Diamonds ist nicht unbedingt ein Stück, aus dem man einen Gedanken mitnimmt und ihn dann zu Hause diskutiert. Es ist vielmehr eine Erfahrung, es macht etwas mit deinem Körper, gibt dir einen Moment des Sehens und die kinästhetische Erfahrung von Berührung, oder wie es ist, dich in die Arme von jemandem fallen zu lassen. All diese Dinge sind kurzlebig, aber sie können etwas in dir auslösen, dir einen Moment des Menschseins geben, einen Moment, der dir vielleicht wieder einfällt, wenn du das nächste Mal jemandem begegnest.
Maria Pasadaki: Die Liebe erfordert Arbeit und Verantwortung. Sie ist nicht etwas, das uns einfach passiert und dann ist alles magisch. Sie kann Konflikte mit sich bringen. Aber sie lehrt uns, dass es vor dem Konflikt die Menschlichkeit gibt. Und wenn wir daran glauben, wenn wir an die Menschlichkeit glauben, dann ist alles andere nur eine Frage der Ausarbeitung.
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Gregor Runge, artistic co-director of the dance department at Theater Bremen, in conversation with the dancers Maria Pasadaki, Waithera Lena Schreyeck and Csenger K. Szabó on the occasion of Diamonds, a new work by Renan Martins and Unusual Symptoms.
Over the last few weeks, you have been dealing a lot with questions of connection, community and togetherness. How connected do you actually feel with each other at the moment? Have you gotten to know each other better in a way that is different from other creative periods?
Maria Pasadaki: Yes, I can clearly say that for myself. Now that I've been with the company for two years, I feel like I've talked more to some people in the last few weeks than in the whole time before that. The whole process has motivated so many conversations. Talking about connection and relationships, looking at them from different angles, whether theoretically, through dance or socially, didn't seem possible without actually cultivating these relationships.
Waithera Lena Schreyeck: Joining this group as a guest dancer, it was really nice for me to first have an outsider's view of an already existing structure and then see how it continued to grow during the process. I had the feeling that many dynamics within the group were shifting and new connections and perspectives were opening up. I got to know the group in a very different way to freelance projects, where people tend to stay at a distance from each other because you have to get to know each other for the first time with each new creation.
Csenger K. Szabó: In previous works, we started from individual tasks and interpretations of certain ideas and worked towards the collective experience of building a piece. In this case, however, the collective journey was there from the beginning. The risk of saying things that you wouldn't normally share so easily was suddenly no longer a risk. Normally when you're in a creative process there are always moments of friction, you feel tension with some people and wonder why it's not working. But the way Renan facilitated this process created a collective responsibility that made it easier to overcome these frictions.
Creating a piece while cultivating everything you’ve just said at the same time – wasn’t that challenging?
Maria Pasadaki: The fact that social bonding went so far compared to other creations sometimes made me wonder if we were friends working on something important to share with the world, or if we were just trying to get the world to see us for who we are, which can get a little self-indulgent. There were times when I worried whether it was about sharing the fun we were having or creating an experience that went beyond that.
Everything you've just said was, of course, inspired by our joint reading of bell hooks' influential book All About Love: New Visions, which was a major source of inspiration for the working process. How did these texts and thoughts influence your work specifically, what strategies or tools did you take from them?
Waithera Lena Schreyeck: It inspired me personally to recognize this collective responsibility for creating community and to work it out in conversation. What does it mean to be responsible? What are the actions I am responsible for doing or not doing? What are the conversations I should be having? Reflecting on how to interact with others was one of the most important things I took away from it.
Maria Pasadaki: I don't know how much material our readings from the book actually produced. But it added an important quality to what we were doing in the studio. These reflections on how we could hold the space and support each other very quickly became a physical thing. It wasn't a performative action like "Oh, I'm being nice to my colleague now". It was more like Renan looking at what we do through the lens of the book and then getting more concrete from that point, wanting to see what it actually looks like to lose someone or embrace someone or wait for someone.
Csenger K. Szabó: The book is about what love really is, or can be, according to bell hooks. So it's given us a lens through which we can relate to each other with a kind of realistic view of what love is. We realize that love, relationships, connections are not the same for everyone. Throughout the journey that this piece represents, we invite the audience to walk with us through a wide range of emotions, through images of joy and pleasure as well as images of pain and violence and grief and exhaustion – all of which are very physical sensations.
Diamonds addresses the audience on stage in a very concrete way, breaking through the formalized separation between audience and performers and aiming to create a different sense of collectivity in the theater space. I have the impression that this has been a growing interest among contemporary dance makers since the COVID pandemic. How much do you identify with this interest as a performer?
Waithera Lena Schreyeck: I'm not sure how that relates to COVID. I feel like there's an urge to look at different hierarchical structures and how to overcome them. In our society, there are so many gaps that we have created between us. And of course, with the pandemic, there was one more little hurdle that had to be overcome in order to be close to each other. And there are still a lot of things that distance us from each other that we haven't even discovered yet.
Csenger K. Szabó: There has been isolation, there are crises. Rethinking the way we come together in public space is perhaps an attempt to break down certain rigid structures and ideas that have been taken for granted for too long and have led to some of the many crises we now face. As a dancer, I wonder what dance meant 30 years ago and what it means today in different contexts. In contemporary dance we have a pretty open idea of what dance can be today. And yet I thought it was fantastic to work with this theme, because if real love is unconditional, can dance be unconditional too? All of that is very present in this piece, we transform and experience the material in a very vivid way, and that's a bridge we want to build with the audience. There is this romantic notion of artists somehow floating above things. I think it's nice when that falls away.
When you look around the world, how important do you think it is to deal with the topic of love?
Csenger K. Szabó: Love is the greatest vessel. You can be eloquent, communicate your thoughts, but still not understand what you are thinking. You can read something in a book, but still not understand what it says. You can believe in something and still be alone. You can have hope that something will get better, but you're not there yet. And I think when you find love, at least in my experience, it's something that really makes you feel whole. We live in a time of atomized individuals and egos. Love reminds us of the fact that if we're not in touch with other people and feeling our bodies in relation to other bodies, we can easily lose our connection to this world.
Waithera Lena Schreyeck: Diamonds is not necessarily a piece from which you take a thought and then discuss it at home. It's an experience, it does something to your body, it gives you a moment of seeing and the kinesthetic experience of touch, of letting yourself fall into someone's arms. All these things are short-lived, but they can trigger something in you, give you a moment of being human, a moment that might come back to you the next time you see someone.
Maria Pasadaki: Love requires work and responsibility. It is not something that just happens to us and then everything is magical. It can involve conflict. But it teaches us that before conflict, there is humanity. And if we believe in that, if we believe in humanity, then everything else is just a matter of working it out.
Veröffentlicht am 18. April 2024