Manchmal, selten, kann man einen Tag benennen

Ein Text von Patty Kim Hamilton, erschienen im Suhrkamp Theater Magazin 2024.

Am 12. Januar 2019 wachte ich mit Kopfschmerzen auf. Ein Drücken hinter meinen Augen, mein Schädel zugedrückt wie in einer Klammer. Meine Organe in mir verknotet. Schmerz, der durch meinen Körper und in meinem Gehirn pulsierte.

Am Abend hatte ich eine Performance. Ein immersives Stück in einer kleinen Galerie, das ich zusammen mit drei engen Freunden entwickelt habe. Wir haben das Stück über ein Jahr lang konzipiert, und ich war der Regisseur-Choreograf des Kollektivs, unserer seltsamen, sweeten Truppe. In meiner Vorstellung war dieser Auftritt nur die erste Station auf unserem Weg zu größeren Galerien, später Kunstmuseen. Ich wollte Kunst machen, die die Menschen veränderte, ich wollte Medien miteinander vermischen und mit unserem Verständnis von performativer Kunst experimentieren. Ich war erschöpft von den Monaten, in denen ich bis früh am Morgen in Underground-Clubs arbeitete, zusätzliche Jobs machte, bei denen ich zu schlecht bezahlt wurde, nebenbei noch studierte, mich um Kinder kümmerte, unser Kollektiv organisierte, Kunst machte und nicht genug schlief. Aber ich dachte, mein Körper sei unbesiegbar – er tat, was ich von ihm verlangte, und er würde mich dorthin bringen, wo ich hinwollte.

Ich zog mich mühsam an und ging in Richtung Galerie, die nicht weit von meiner Wohnung in Neukölln entfernt lag. Ich dachte, die Kopfschmerzen kämen vielleicht von der Nervosität vor diesem Auftritt. Wegen der Enge in meinem Magen konnte ich nicht wirklich essen. Ich kaufte mir einen Burrito und schluckte zwei Bissen herunter. Nach der Aufführung fühlte ich mich zu schlecht, um noch mit in eine Bar zu gehen und mit den anderen ein Bier zu trinken. Ich ging sehr früh ins Bett und fühlte mich schlechter als morgens.

Als ich am nächsten Tag aufwachte, schrie der Schmerz immer noch. So etwas kannte ich nicht. Es gab zuvor noch nie einen Schmerz, den der Schlaf nicht auslöschen konnte. Von diesem Tag an wachte ich jeden Morgen auf und versuchte vorsichtig festzustellen: Ist er weg? Jeden Tag wurde ich mit der Brutalität eines Hammers konfrontiert, der auf meinen Kopf einschlug. Um es einfacher auszudrücken: Ich hatte von da an fast vier Jahre lang Migräne. Niemand konnte mir sagen, woher sie kam oder was sie bedeutete.

Der erste Arzt schien sich zu ärgern, dass ich überhaupt in seiner Praxis war, und nahm während meines Besuchs ein Telefonat entgegen. Als er den Anruf beendete, sah er mich an und sagte,
                Sie scheinen überarbeitet zu sein. Sagen Sie Ihrem Freund, er soll mit Ihnen mal in die
                Sauna gehen.
(Er hat nicht gefragt, ob ich einen Freund habe.)
Die nächste Ärztin, bei der ich fast ein Jahr lang war, schien immer zu seufzen, sobald ich ihre Praxis betrat. Sie stellte Fragen, die darauf hindeuteten, dass sie mir nicht glaubte. Als ich sagte, die Schmerzen seien so stark geworden, dass ich nicht mehr arbeiten oder studieren könne, hob sie die Augenbraue. Als ich in der Praxis anrief, um eine Krankschreibung zu bekommen, sagte die Krankenschwester schroff:
                Sie sind wirklich sehr jung, um so erschöpft zu sein.
Was sie damit meinte: Sind Sie sich sicher? Sind Sie sicher, dass Sie die Wahrheit erzählen?

Es gibt keine Worte für die Erfahrung von Schmerz. Ich kann diese Tür für niemanden öffnen, egal wie sehr ich mich bemühe, das liegt in der Natur der Sache. In den letzten drei Jahren habe ich trotzdem versucht, einen Text über Frauen mit diesem Leiden zu schreiben. Ich kann Bilder von Momenten nachzeichnen. Ich kann über die Bürokratie und Beschwerden berichten, über den dunklen Humor, den man entwickelt, um sich vor dem Sog der Depression zu schützen. Aber ich kann niemanden in meinen wirklichen Kopf, in meinen wirklichen Körper einladen, um zu fühlen, was ich fühle. Die Nerven, die in meinem Schädel und in meinen Armen brennen. Mein Gehirn, das durch einen Fleischwolf gedreht wird. Das Dauerhafte, keine Pausen, keine Momente, in denen man die Energie zurückgewinnen kann, die man braucht, um für den nächsten Angriff gerüstet zu sein. Keine Erleichterung, nicht einmal im Schlaf.

Ich hatte mich in die Welt der Menschen mit Behinderung begeben, doch für Außenstehende war das alles unsichtbar. Meine Welt wurde sehr klein. Ich verlor Dinge, die mir wichtig waren – Freundschaften, die Möglichkeit, mich über die Grenzen meines Viertels und manchmal sogar meines Hauses hinauszubewegen. Ich verlor an Flexibilität, verlor meine Träume, in intensiven Umgebungen zu arbeiten, verlor an Spontaneität, an der Fähigkeit meines Körpers, alltägliche Dinge zu tun, die lustig waren oder mir Freude bereiteten. Ich verlor die Qualität meines Lebens. Auf der Rückfahrt von der zweiten Klinik weinte ich die meiste Zeit der Fahrt still und dachte, dass ich mir mit dieser Krankheit keine Zukunft vorstellen konnte. In diesem Zustand wird einem sehr bewusst, wie dünn die Membran zwischen diesem und dem nächsten Leben wirklich ist. Das Einzige, was mich motivierte, jeden Morgen weiterzumachen, war das Bedürfnis, es aufzuschreiben, zu kommunizieren, ein Fenster zu öffnen, durch das andere zumindest einen Blick auf diese – meine – Realität werfen konnten. Ich musste das Stück Schmerz Camp beenden. 

(Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen, dass es in dem Stück nicht um mich persönlich geht, sondern um die physisch-philosophischen Seiten des Schmerzes, um die Frauen, die ich beobachtet und erschaffen habe, es geht um das Altern und um das (Nicht-)Überleben.)

In dem Stück stelle ich die Frage: Was gibt dir dein Schmerz? Darüber habe ich lange Zeit selber nachgedacht. Mein Schmerz hat mich erkennen lassen, dass meine Sehnsucht nach Leben eine tiefe Quelle ist. Er hat mich gelehrt, auf meine eigenen Bedürfnisse zu achten, auf die Botschaften, die mein Körper sendet. Er hat mir ermöglicht, Krankheit und Zugänglichkeit auf eine greifbare Art und Weise zu verstehen. Diese Zeit lehrte mich, in meine eigene innere Welt einzutauchen, die Reichhaltigkeit meiner Vorstellungskraft zu entdecken und die Ruhe kennenzulernen, die in diesem Raum existiert. Sie lehrte mich die Bedeutung des Seins. Was von meiner künstlerischen Praxis nach der Behinderung übrig blieb, war mein Geist und damit die Worte. Hier habe ich wirklich verstanden, dass Worte meine Werkzeuge sind, meine Befreiung. (Hätte ich all diese Dinge lieber nicht gelernt? Schwer zu sagen.)

Und manchmal gibt es keinen konkreten Tag. Es gibt keinen Moment, an dem man sagen kann: Und hier ist mein Körper in Remission gegangen. Mit der Zeit, ganz langsam, wurden die Schmerzen als eine Reihe von Wellen oder Anfällen erkennbar. Und dann wurden diese Wellen langsam immer seltener. Durch den Prozess der Neuverkabelung der Nervenbahnen, der Meditation, der täglichen Einnahme von Medikamenten, von Sport und der Veränderung meines Lebens, begann der Schmerz zu ruhen. Jetzt ist es fast ein Jahr her, dass ich mein Leben zurückgewonnen habe, dass ich das Privileg und die Freiheit habe, mich zu bewegen, dass ich belastbar bin und nur noch selten Anfälle habe. Wenn ich jetzt Kopfschmerzen habe, denke ich, vielleicht liegt es daran, dass ich heute tatsächlich nicht genug Wasser getrunken habe? Ich habe Glück. Ich bin dankbar. Und ich weiß, dass sich mein Gesundheitszustand jederzeit wieder ändern kann, so wie es bei jedem anderen Menschen auch sein kann. 

In den letzten acht Monaten habe ich Schmerz Camp zu Ende geschrieben. Ich wusste lange nicht, was ich als Nächstes schreiben würde. Irgendwann wurde mir klar, dass ich mir mein Leben nach diesem Text, nach der Krankheit, nie vorgestellt habe. Was ist jenseits des Schmerzes? Es gab erst lange keine Antwort. Langsam, und dann auf einmal, kommen neue Bilder, neue Geschichten, Themen und Gefühle. Etwas, was ich noch nicht verstehe, dem ich mit Worten nachgehe. Eine Öffnung in eine neue Welt. 

Wir bedanken uns beim Suhrkamp Verlag für die freundliche Genehmigung den Text abzudrucken. Er ist im Suhrkamp Theater Magazin 2024 im November 2023 erschienen. Das ganze Magazin finden Sie unter www.suhrkamptheater.de.

Veröffentlicht am 9. November 2023