Meine Aufnahmeprüfung über Torquato Tasso und Otto Rehhagel

Eine Kostprobe: Moritz Rinke liest aus seinem neuen Buch Ich könnte hier stundenlang sitzen und auf den Rasen schauen

Für Jürgen Flimm †

Sommer 2022. Der große Theatermann Jürgen Flimm und ich gehen in eine kleine italienische Bar in der Bleibtreustraße, nahe seiner Wohnung in Berlin. Wir sind beide Werder-Bremen-Anhänger und nachdem wir auf den Aufstieg unseres Vereins angestoßen und den Schonwiedernichtaufstieg des HSV etwas belächelt haben, erzählt er, wie so oft, alte Theatergeschichten, während sein Rollator neben uns steht und gar nicht zu all den lebendigen, tollen Geschichten passen mag. Und auch ich erinnere mich an eine Flimm-Geschichte, die ich dann sogar dem Kellner der italienischen Bar erzähle.

Ich wollte nämlich beim großen Flimm studieren, dem berühmten Regisseur der siebziger, achtziger Jahre; der damals Intendant des ehrwürdigen Hamburger Thalia Theaters war. Er lehrte Regie am Institut für Theaterwissenschaft, das von einem Professor Brauneck geleitet wurde, der Standardwerke herausbrachte, die ich für die Aufnahmeprüfung alle gelesen hatte. Und natürlich hatte ich auch alles über die berühmtesten Flimm-Inszenierungen gelesen, zum Beispiel Platonow von Tschechow. Ich hatte sogar einen Satz aus einer Kritik auswendig gelernt: Kaum je wurde die sterbenskomische Lebenslangweile der Tschechow-Figuren in über fünf Stunden derart kurzweilig vorgeführt.

Vor der Prüfung begegnete ich zufällig dem Alt-Intendanten Kurt Hübner, er lief durch das Foyer der Bremer Shakespeare-Company, wo die Mutter meiner ersten Freundin Sekretärin war. Ich sprach ihn sofort auf meine Hamburger Prüfung über den Bremer Torquato Tasso an, eine Inszenierung aus seiner Amtszeit, Regie: Peter Stein.

Dann kam einer dieser berüchtigten Hübnermonologe: Peter Stein sei ein Demagoge gewesen, der ihn, Hübner, mit diesen Mitbestimmungsreden zur Weißglut gebracht habe, weil er, Hübner, ja den Fortbestand des Theaters sichern müsse, und im Torquato Tasso habe sich Stein an ihm, Hübner, gerächt, aber es sei ohnehin egal, ob ich die Prüfung bestünde, weil die Welt bald sowieso untergehe und das Theater gleich mit.

„Jetzt komm gleich ich ins Spiel!“, sagt Flimm voller Vorfreude dem italienischen Kellner, der geduldig dasteht mit seinem Tablett und sich die ganze Geschichte anhören muss.

In der Prüfung erzählte ich Flimm dann alles, was Hübner gesagt hatte, auch, dass ich nach der Prüfung möglichst schnell am Thalia Theater inszenieren müsse, weil das Theater beziehungsweise die Welt bald untergehen würde.

Flimm sah mich zerknirscht an, das konnte er ja, und die Zerknirschtheit in der nächsten Sekunde in Heiterkeit umschlagen lassen, aber bei mir gab’s keine Heiterkeit, ich war durchgefallen.

Ein Jahr später bewarb ich mich wieder. Ich hatte gehört, dass Jürgen Flimm sogar mit dem großen Fußballlehrer Otto Rehhagel befreundet sei, eine der, wie es hieß, »tiefsten Freundschaften zwischen Kultur und Sport seit der Begegnung von Brecht und Max Schmeling«, das wollte ich in der Prüfung unbedingt strategisch erwähnen. Aber nach zwei Minuten Prüfzeit sagte Flimm zu Professor Brauneck: „Woher kenne ich dieses Gesicht?“

„Ach“, antwortete Brauneck, „der junge Mann hatte uns das letzte Mal den Weltuntergang prophezeit, aber ich finde ihn für das Theater eigentlich ganz interessant, darum habe ich ihn noch mal eingeladen.“

„Ah ja …“, murmelte Flimm und sah mich noch zerknirschter an als beim letzten Mal.

„Otto“, warf ich noch ein, „Otto Rehhagel! … Sie, Otto, Brecht und Schmeling!“ Ich zitierte noch schnell: „Kaum je wurde die sterbenskomische Lebenslangweile der Tschechow-Figuren in über fünf Stunden … “

„Wer hat diesen berühmten Satz gesagt?“, fragte Flimm plötzlich. „Das Runde muss ins Eckige. Otto Rehhagel oder Sepp Herberger?“

„Rehhagel!“, antwortete ich, wie aus der Pistole geschossen.

„Falsch, Herberger“, sagte Flimm, „das verwechseln alle! Ihr habt alle keine Ahnung von Fußball! Von Rehhagel stammt: Der Ball muss ins Tor.

Wieder durchgefallen!

Zwölf Jahre später nahm Flimm nach einer glanzvollen Ära Abschied vom Thalia Theater in Hamburg, und der neue Intendant ließ zur Eröffnung das Stück eines jungen Autors uraufführen. Es war zufällig meins. Ich saß in der Loge, der Stuhl neben mir war noch frei. Und wer kam plötzlich und setzte sich neben mich? Otto Rehhagel, nein, nein, noch besser, es war Flimm, ausgerechnet Flimm!

„Ist die Geschichte nun zu Ende?“, fragt der Kellner in der Bar.

„Ja, eine wirklich schöne Theatergeschichte! Sie handelt von unseren zwei Lieben: dem Theater und dem Fußball. Es ist ein Drama, dass ich das damals in den Prüfungen nicht bemerkt habe, so haben wir viele Jahre miteinander verloren“, sagt Flimm, stellt sich hinter seinen Rollator und tippelt davon.

Wir sind uns nie wieder begegnet, es war sein letzter Sommer. Aber ich sehe ihn noch heute neben mir in jener Loge sitzen. Er wirkte wieder zerknirscht, aber für mich war es der größte Tag in meinem Leben – und den hatte ich zum Teil mit Jürgen Flimm verbracht. Den vierten Akt des Stücks hielt er im Übrigen für missraten, durchgefallen.

 

 

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors. Ich könnte hier stundenlang sitzen und auf den Rasen schauen ist bei Kiepenheuer & Witsch 2024 erschienen.