Mit den Ohren kann man viel erleben

Audiodeskription im Musiktheater: Das ist neu am Theater Bremen und wird zum ersten Mal bei Oper Otze Axt, das im Rahmen der Förderinitiative NOperas! im Juli Premiere feiert, von Anne Inken Bickert angeboten. Die Dramaturgin Brigitte Heusinger hat mit ihr gesprochen.

Brigitte Heusinger: Im Tanz, Moks und Schauspiel bieten wir regelmäßig Vorstellungen mit Audiodeskription für blindes und sehbehindertes Publikum an. Jetzt wird es durch dich den ersten Einsatz im Musiktheater geben. Wie kam es dazu?

Anne Inken Bickert: Ich bin als Produktionsleiterin bei Oper Otze Axt tätig, bin aber ebenso Autorin für Audiodeskription und habe per Zufall Darsteller:innen, die zum Kollektiv der Dritten Degeneration gehören, bei einem Workshop zu Audiodeskription kennengelernt.

Die Oper Otze Axt bietet sich für sehbehinderte Menschen an, oder?

Ja, mit den Ohren kann man bei Otze Axt ziemlich viel erleben, weil so viele verschiedene Klangqualitäten vorkommen: von Punk, über klassische Musik, Liveelektronik, improvisiertes Sounddesign bis hin zu Bühnenbildobjekten wie Stahlkäfigen, auf den Geräusche erzeugt werden. Und die Sounddesignerin Antonia Beeskow nimmt auch den Raum als solchen ab, so dass Raumgeräusche als solche verstärkt und wahrnehmbar werden.

Und zu diesen akustischen Eindrücken kommt jetzt noch die Audiodeskription. Was ist das genau?

Audiodeskription ist eine Hörfassung für ein Theater-, Musiktheaterstück, so dass die Vorstellung auch für sehbehindertes oder blindes Publikum zugänglich ist. Dafür wird im Vorfeld ein Hörskript erstellt, das zusammen mit einer blinden Person geschrieben wird. Eine sehende Person beschreibt dann live die Bühnenhandlung, erläutert alles, was nicht zu hören ist. Kombiniert wird dies bei der Vorstellung mit einer Einführung und einer Tastführung, bei der Requisiten oder Kostümteile haptisch vorher schon mal erfahrbar werden können. So füllen möglichst viele andere Sinnesreize die Leerstellen und machen eine Arbeit zugänglich.

Was beschreibt ihr live?

Man sagt in der Audiodeskription immer so viel wie nötig, so wenig wie möglich. Ich versuche eine eigene Deutung zu vermeiden, sondern vielmehr Bilder zu vermitteln. Schließlich soll es Interpretationsspielraum geben. Schließlich erlebt auch jede:r sehende Zuschauer:in eine Inszenierung anders.

Wir stellen uns immer blind als schwarz vor. Aber das ist ein Irrglaube.

Viele sehbehinderte Personen sehen noch Kontraste, Umrisse oder Unschärfen und verfügen über ein eingeschränktes Sehvermögen und sind trotzdem per Definition blind. 

Die meisten Sehbehinderten waren ja auch mal sehend. Blindheit ist eben auch eine Krankheit des Alters. Du hast erzählt, dass Farben und Licht in den Audiodeskriptionen durchaus wesentlich sind.

Unser blindes Publikum interessiert sich oft dafür, weil Licht und Farben mit Stimmung und Symbolen zu tun haben, aber sie eben auch Farben und Licht erinnern. Aber hier muss man auch nicht alles beschreiben, denn starke Lichteffekte oder Stroboskoplicht sind meistens durchaus wahrnehmbar oder sogar stark irritierend. Und für Menschen, die Farben nicht erinnern können, verknüpfe ich die Farbbeschreibungen mit anderen sinnlichen Qualitäten und rede zum Beispiel von kühlem Blau und warmen Orange.

Aber es gibt immer die Möglichkeit der Frustration, oder?

Klar, generell kann man in viele Fettnäpfchen treten. Wie beschreibt man zum Beispiel den Körper von schauspielenden Personen? Erwähnt man den schwindenden Haaransatz eines männlichen Darstellers? Ich zum Beispiel finde es oft wichtig zu erwähnen, ob es sich um eine weiße Person handelt oder eine Person of Color, weil das durchaus relevant sein kann, aus welcher Position heraus eine Figur spricht, insbesondere wenn sie von strukturell diskriminierenden Erfahrungen berichtet. Aber es gibt auch Kolleg:innen, die auf diese Information verzichten. Aber für mich gehört es einfach dazu, die Menschen so zu beschreiben, wie sie sind, wie sie aussehen.

Du betrachtest Barrieren nicht als individuelles, sondern als gesellschaftliches Problem.

In Deutschland leben ca. 9,3 Prozent der Menschen mit einem schweren Grad an Behinderung und bei den über 64-jährigen sind es sogar über 24 Prozent. Viele Menschen haben auch keine sichtbaren Behinderungen wie beispielsweise psychosoziale Behinderungen. All diese Personen treffen auf Barrieren im Alltag. Es ist also weniger der Mensch, der die Behinderung mitbringt, sondern die Gesellschaft, die diese Menschen behindert und Barrieren baut. Wir müssen umdenken und begreifen, dass es eben kein Luxus ist und keine „Extra-Wurst“, wenn eine Inszenierung barrierefreie Angebote anbietet. Teilhabe ist schließlich ein Menschenrecht.

(D)ein hohes Ziel ist, verschiedene barrierefreie Angebote in einer Inszenierung künstlerisch zu vereinen und in den künstlerischen Prozess zu integrieren.

Ja, letztens habe ich mit Die Insel von dem Musiktheater-Kollektiv inoperabilities am Radialsystem in Berlin ein vorbildliches Projekt in dieser Hinsicht gesehen. So etwas im Stadttheater zu realisieren ist sehr schwer, da stark in den eingespielten Betrieb eingegriffen werden muss und alle Bereiche auf neue Art zusammenarbeiten müssen. Das fängt schon da an, dass die Probebühnen für blinde oder sehbehinderte Performer:innen oder Teilnehmer:innen barrierefrei zugänglich sein müssen.

Auch für Menschen mit körperlichen Behinderungen mussten bei uns in der Vergangenheit Rampen gebaut werden.

Genau. Theater sind ja oft alte Gebäude, in denen Veränderungen mit dem Denkmalschutz abgestimmt werden müssen. Und es braucht eine Sensibilisierung des gesamten Teams, damit eine angenehme und sichere Probenatmosphäre entstehen kann. Ich meine hier nicht nur das künstlerische Team, sondern auch die technischen Gewerke oder auch Social Media, PR, Öffentlichkeitsarbeit. Alle müssen sensibilisiert werden, auch dass keine diskriminierende Sprache benutzt wird. Hier gibt es noch viele Wissenslücken.

Auch ich bin oft sehr verunsichert, was die Terminologie angeht. Das fängt schon mit dem Wort Behinderung an.

Die UN empfiehlt die Formulierung „Mensch mit Behinderung“, also, dass man den menschlichen Aspekt zuerst nennt und nicht von den Behinderten als Gruppe spricht. Wir befinden uns mitten im Aushandlungsprozess von Sprache und Repräsentation.

Und machen alle noch Fehler …

… was nicht schlimm ist, so lange Offenheit und Sensibilität gegeben ist.

 

Veröffentlicht am 26. Juni 2025.