myveryownfeministbookclub #11: Vergewaltigung
Theresa Schlesinger im zweiten Lockdown mit dem ersten Stück: Warum wir nicht aufhören dürfen, zu denken, zu fragen, zu hinterfragen – auch wenn der Vorhang vorerst noch unten bleibt: Lest!
Es ist November. Draußen ist es mittlerweile kalt geworden, die Straßen werden leerer, das Theater hat seine Türen wieder für Publikum geschlossen, doch drinnen, da tobt es. Eine kleine Gruppe an Menschen darf noch die Bühne bespielen. Wir proben WÜST oder Die Marquise von O.… — Faster, Pussycat! Kill! Kill!! Ich falle also mitten aus den Endproben zu dem Stück, das wir doch eigentlich schon im Frühjahr begonnen hatten. Die Zeiten verschränken sich auf eine bizarre Art und Weise. Schon damals kam der Arbeit die Corona-bedingte Schließung des Theaters in die Quere und es lag auf Halde. 7,5 Monate haben wir darauf gewartet die Proben wieder aufzunehmen. Im März taumelte ich von der ersten Woche der Leseproben in den ersten Lockdown und startete einen feministischen Buchclub. Da hatten sich so viele Gedanken, so viele Fragen aufgestaut. Da hatte ich eine Beschäftigung angefangen, die es zu teilen galt! Ich wollte die Auseinandersetzung nicht abreißen lassen. Wollte teilen, was wir gemeinsam gelesen hatten und weiter sprechen darüber. Schließlich fand sich eine Gruppe von Menschen, denen es ähnlich ging. Bis zur Sommerpause haben wir uns drei Mal im virtuellen Raum getroffen.
Viele Fragen erfüllten nach und nach diese Zwischenräume.
Zwischen uns Lesenden, zwischen den Städten, zwischen den Computern, zwischen den Lektüren. Auf eine Art und Weise denke ich, dass diese Gespräche jetzt auch Teil des Stücks sind, dass sie irgendwie dazu gehören, zwischen den Zeilen des Texts sitzen oder als Gedanken mit im Raum herum schwirren. Dieser Raum ist jetzt das Kleine Haus des Theater Bremen. Dieser Raum soll wieder geöffnet werden. Wenn schon nicht für Publikum, dann immerhin virtuell und in der Auseinandersetzung mit den drängenden Fragen des Stücks. Zurück im Lockdown. Zurück zur feministischen Lektüre, könnte man jetzt denken. Das ist aber nur die halbe Wahrheit.
Und vielleicht liegt hier auch schon einer der wichtigsten Antriebspunkte für die Wiederaufnahme des Clubs und für die dafür ausgewählte Lektüre: Die halbe Wahrheit.
WÜST handelt von einer Frau, die sich Recht verschafft, sich hinstellt und erzählt von dem Unrecht, das ihr angetan wurde und wird und die schließlich die Sprache an sich reißt. Sie wird bei einem Überfall ohnmächtig. Wochen später wird ihr klar, dass sie schwanger ist. Im Nachhinein erst kann sie die Bruchstücke ihrer Erinnerung in Verbindung bringen. Mit einer Zeitungsannonce macht sie ihre Suche öffentlich und verspricht die Heirat. Die schmerzende Erkenntnis schließlich schmerzt fast mehr, als die Tat selbst: Ihr vermeintlicher Retter, der sie aus den Trümmern in das sichere Haus brachte kurz vor ihrer Ohnmacht, muss der Vater sein. Was wie die Folge eines True Crime Podcasts anmutet, ist Heinrich von Kleists Novelle Die Marquise von O.… Doch die Vorlage bietet nur eine Sicht auf den Vorfall.
Entgegen der klassischen Geschichte, wie sie Kleist erzählt, wendet sich die Protagonistin in WÜST aktiv gegen das Narrativ und entscheidet sich gegen das vorgegebene Ende. Denn im Buch steht eben nur die halbe Geschichte.
Wenn wir von Vergewaltigung sprechen, haben wir meist schon ein vorgezeichnetes Bild im Kopf. Wer über Vergewaltigung spricht, davon schreibt, darüber erzählt, ist meist mit ähnlichen Reaktionen konfrontiert. Denn die Geschichte einer Vergewaltigung liest sich oft gleich. Eine Frau fällt einem Mann zum Opfer und ist damit nun befleckt. Es haftet etwas an ihr. Scham, vielleicht. „Der Vergewaltigungsdiskurs ist eine der letzten Bastionen und Brutzellen für Geschlechterzuschreibungen, die wir ansonsten kaum wagen würden zu denken, geschweige denn auszusprechen – und zwar durch alle politischen Lager und Gesellschaftsschichten hindurch.“, schreibt die Autorin Mithu Sanyal. Mädchen lernen von klein auf, dass sie jederzeit potenzielle Vergewaltigungsopfer sein könnten, ohne auch nur irgendetwas getan zu haben. Allein aufgrund ihres Geschlechts scheint dieses Schicksal vorbestimmt.
Mit diesem Status wachsen wir auf ohne es zu hinterfragen.
Ich möchte als Lektüre für den kommenden Monat also das Buch vorschlagen, was mir einen neuen Horizont eröffnet hat. Es ist das oben zitierte Buch Vergewaltigung von Mithu Sanyal. Am 12. Dezember um 16 Uhr freue ich mich sehr mit der Autorin selbst sprechen zu können. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe After Tomorrow wird sie als Gast bei einem Online-Gespräch dabei sein. Ich möchte also diesen Buchclub und alle, die daran interessiert sind, herzlich einladen ihr Buch zu lesen, Fragen und Gedanken dazu zu notieren und sich zu beteiligen! Anmeldungen für das Gespräch, sowie für den Buchclub unter dramaturgie@theaterbremen.de
„Hier beginnt meine Geschichte“, sagt Julietta, Marquise von O.… ungefähr auf der Hälfte des Stücks. Sie reißt das Zepter der Erzählung an sich — der Erzählung ihrer Vergewaltigung, ihres Rachezugs, ihres Weges zu Wiederherstellung ihrer Ehre. Und eröffnet damit eine ganz neue Perspektive. Ihre.