Ob Schaf oder Scratch: Hauptsache erzählen!

Wie es ist die Seiten zu wechseln? Schauspielerin Karin Enzler hat beim Tanzstück Starting From Scratch die Dramaturgie übernommen.

In der Inszenierung Schäfchen im Trockenen, nach dem Roman von Anke Stelling in der Regie von Nina Mattenklotz, spiele ich Resi, eine Frau in den Mittvierzigern, Künstlerin und Mutter von vier Kindern. Sie sorgt sich um die finanzielle und soziale Sicherheit ihrer Familie und entscheidet aus einem vermeintlich politischen Movens heraus, mit der Wahrheit nicht mehr hinterm Berg zu halten. „Wutrede“ wird der Text in den Rezensionen genannt. Aber ich denke, alles, was sie sagt und dadurch in Bewegung bringt, hängt mit Angst zusammen. Angst davor, ausgestoßen zu sein, es nicht geschafft zu haben, mit dem Unvermögen und den lebenserhaltenden Lügen der Mutter oder einer ganzen Generation falsch umgegangen zu sein, dieselben Fehler zu wiederholen, nichts verändern zu können, unwissend und machtlos zu sein. Sie verfällt der trügerischen Hoffnung, komplexe Zusammenhänge durch bloße Benennung entschärfen zu können. Ich glaube, es gelingt ihr nicht. Aber sie scheitert auch nicht. Sie hat sich in den Zusammenhängen, in denen sie steht, neu positioniert. Der Stoff wirkt in seiner Alltäglichkeit oft unsichtbar und hat dadurch einen umso mächtigeren Einfluss auf unser Leben – jedenfalls auf meines!

Bei der Tanzproduktion Starting From Scratch von Andy Zondag handelt es sich um einen abstrakteren Stoff: von Anfang an anfangen.

Diese Erzählung entstand ohne Romanvorlage, dafür aber vor dem Hintergrund einer Menge Gedanken und Erfahrungen der letzten Zeit. Ausgangspunkt ist eine künstliche Annahme, wie es das Theater immer ist, eine Laborsituation, die den Ausschluss von Wirklichkeit fordert, um sich der Untersuchung einiger Fragen zu widmen. Alles unter dem Vorbehalt, dass nichts aus sich selbst heraus beginnen kann. Es ist unnatürlich, den Vorlauf oder die Vergangenheit zu löschen. Darüber hinaus ist es gefährlich, sich den Schöpfungsmoment leichthändig anzueignen: eine Hybris, eine Überheblichkeit, die zu wahrhaftig tollen Erzählungen führt, auch auf Theaterbühnen! Zum Glück also haben wir die Möglichkeiten der Kunst: Sie schützt uns vor den Parametern und Gesetzen der natürlichen Welt und ermöglicht uns, alternative zu erschaffen. Andererseits ist Strating Form Scratch eine sehr natürliche Annahme, zumal scratch auch „Schürfung“ heißt, also vielleicht eine kleine Wunde meint, die heilen will und auch heilen kann.

Am besten, wenn man sie nicht zuklebt und viel Luft dran lässt.

Ich kenne Andy seit vielen Jahren. Wir haben uns im visual poem Der perfekte Mensch (2013) von Alexander Giesche und Regula Schröter als Performer*innen kennen und schätzen gelernt. Auch in der Folgearbeit Lost hat uns die Suche zwischen bewährten und unbekannten Erzählstrukturen angefeuert und verbunden und die stoffliche, wie auch persönliche Freundschaft vertieft. Als er mich gefragt hat, ob ich in Scratch Dramaturgie und künstlerische Mitarbeit übernehmen möchte, habe ich sofort zugesagt. Man kann durchaus von glücklicher Fügung sprechen, dass Andys erste große Regiearbeit in die Praktikumsphase meines Masterstudiums (Angewandte Philosophie) gefallen ist, welches ich im Frühjahr 2020 ergänzend zu meiner Arbeit als Schauspielerin aufgenommen habe und während den Lockdowns gut voranbringen konnte, und dass unser Vorhaben bei Intendanz und Dramaturgie auf offene Ohren gestoßen ist. 2018 hatte ich in Jenseits-Paula von Bernd Freytag schon einmal Dramaturgie gemacht und da vor allem mit der Stückentwicklung und dem Umgang mit Sprache zu tun.

Sprache, Sound, Erzählung, das waren schon immer thematische Linien, die mich angezogen haben.

Zum Tanz hatte ich immer eine große Affinität, aber ich habe mich nie mit den Entstehungsprozessen auseinandergesetzt. So war es sehr interessant zu erleben, wie unterschiedlich der Umgang mit Körper oder Sprache im Vergleich zum Schauspiel ist. Es gibt natürlich viele verschiedene Möglichkeiten, wie Spiel aufgefasst werden kann. Aber diesen hohen Grad von Anbindung an die Performer*innen kannte ich nicht. Ich hatte das Gefühl, dass alles, was auf der Bühne passierte, immer in einer Art unmittelbarem Abgleich stattfand, als würden die persönlichen Resonanzen auf das, was man tut, immer mit einbezogen.

Bedeutung hatte plötzlich eine ganz andere Bedeutung! 

Die Erfahrungen in den verschiedenen Disziplinen bereichert mein Berufsverständnis. Arbeitsfelder werden aktiviert und miteinander verbunden, rufen immer wieder unterschiedliche Teile meiner Identität hervor. Es erweitert mich selbst als Theaterschaffende. Es ist und bleibt ungeheuerlich, was auf der Bühne alles zusammenfinden kann! Was für mich die Arbeit in den verschiedenen Bereichen verbindet, ist die Erzählung an sich. Sie interessiert mich auf Grund ihres prozesshaften Charakters, der Gebundenheit an Zeitlichkeiten und ihrer sehnsüchtigen Gerichtetheit. Ich bin immer wieder überwältigt, welche Linien sie zu ziehen vermag, was sie verbindet oder umgeht und wie unterschiedlich die Geschichten sind, die daraus entstehen. Mit der zurecht aktuell viel zitierten Donna Haraway würde man dann wohl sagen, man kann nur dort wirken, wo man es tut und alles, was damit in Berührung kommt, ist Bestandteil der Erzählung. Es muss nicht nach einer Kunst gestrebt werden, noch muss man sich für einen Bereich entscheiden, sondern pilzförmig verbindet sich das Sein und das Schaffen, auch in deren Negationen, und bringt im besten Fall Früchte hervor. Ob diese dann entdeckt werden oder schmackhaft sind, ist wieder eine andere Frage, die einen komplexen Antwortschweif hinter sich herzieht.