Tanz

Kleines Haus

Amour

von Alize Zandwijk

Allein in Deutschland gibt es weit über eine Million Demenzkranke, Tendenz steigend. In einer Welt, die auf Wachstumsraten schaut, stellt Demenz eine gegenläufige Bewegung dar: Erinnerungen erlöschen aus dem Bewusstsein. Als fragende, herantastende Annäherung an das Thema Alzheimer verstehen Samir Akika und Alize Zandwjik ihre mit Amour betitelte erste Zusammenarbeit. Was bedeutet es, die Kon­trolle über Körper und Geist zu verlieren und auf eine mehr oder weniger bewusste Art und Weise unseren Mitmenschen ausgeliefert zu sein? Und was bedeutet das für all jene, die dies beobachten müssen? Gibt es in der Mitte unserer Gesellschaft Platz für Menschen, bei denen Informationen nicht oder auf andere Weise haften bleiben? Wer kümmert sich und wie tut man das überhaupt? Und was spielt der Humor für eine Rolle in dem Ganzen? All diese Fragen stellen sich nicht zuletzt, weil beim Thema Alzheimer die schicksalhafte Schranke zwischen „gesund“ und „krank“ sinnbildlich wird: Wie gehen wir damit um, dass wir nicht wissen können, wie es sich anfühlt, zu vergessen, wer wir sind?

  • „[…] Alize Zandwjik, die leitende Schauspiel-Regisseurin unterstützt von Samir Akika, dem Chefchoreograph der Tanzsparte hat eine Truppe von insgesamt acht Akteuren mit einer großen darstellerischen Spannbreite geformt. Außerdem hat die Musikerin Maartje Teussink sich am Rand der Bühne mit ihren Instrumenten eingerichtet und einen durchgängig gefühlvollen Soundtrack beigesteuert. […] Schrille Momente wechseln mit sehr ruhigen, einfühlsamen und entschleunigten Szenen. […]Die Inszenierung ist tabulos, aber niemals geschmacklos. […]Ich finde es mutig und richtig, dieses Thema so zu inszenieren. Und das ist durchaus gelungen. Auch Dank der sehr überzeugenden Ensembleleistung. Mich hat der Abend angerührt. Vor allem, wenn diese unterschiedlichen einsamen Charaktere, die meistens in eigenen Welten agieren, dann doch manchmal zueinander finden. Man lernt sie alle lieben. Insofern trifft auch der Titel ,Amour‘.“
    Christine Gorny, Radio Bremen 2, 2. Juni 2018

    „Wiederum gerät eine Inszenierung der Schauspielspartenleiterin Alize Zandwijk zum Triumph. ,Amour‘ heißt das spartenübergreifend realisierte Demenz-Stück, ein imposantes Plädoyer für mehr Mitgefühl. […] Zugleich schonungslos und einfühlsam führen sie Szenen eines Zerfalls vor. […] Das bemerkenswerte Bühnenbild (Thomas Rupert, Nanako Oizumi) suggeriert Rekonvaleszenz, die es für keinen Betroffenen geben kann. […] Maartje Teussink (,die) während des pausenlosen 110-Minüters wiederholt berührend singt und musiziert (zumal Mary Hopkins Endlichkeitselegie "Those Were The Days"; 1968). Auftritt der ersten Patientin. Nadine Geyersbach verkörpert sie mit Rollator, grenzdebilem Blick, sporadischen Tourette-Intermezzi und bezaubernder Blümchenbluse (findig und vielfältig in der Kostümauswahl: Anne Sophie Domenz). Dass sie mit ihrem Vehikel die Neigung des barrierefreien Entrees gleich zweimal voll auskostet – einmal sogar rückwärts! – sorgt das erste Mal für Heiterkeit an diesem Abend, der komische und beklemmende Momente ein ums andere Mal intensiv ineinander blendet. Das ist einerseits entlastend für den Affekthaushalt der Zuschauer. Andererseits verpufft eh so manches Lachen vor seinem kehligen Austritt. […] (Alize Zandwijk) realisiert ein virtuoses Theater des Mitfühlens, das der tragischen Grundierung des Stoffes wohltuende Brechungen unterlegt. […] Dafür sorgt unter anderem ein fulminantes Solo von Marie-Laure Fiaux. […] Ansonsten sind die choreografischen Anteile am Geschehen zwar allzeit sichtbar, aber nie plakativ. Umso trennschärfer lassen sich jene magischen Alize-Zandwijk-Momente identifizieren. […] Etwa in einer vom agilen Gabrio Gabrielli angeführten Gruppenszene. […] Bewundernswert, wie die smarte Ökonomie der Inszenierung allen Akteuren dieses Endspiels verschiedene Perspektiven und Erfahrungshorizonte zubilligt! Großartig, welch markante Einzel sie in diesem enormen Ensemblestück mannschaftsdienlich spielen! Verena Reichhardt etwa trägt ,Die wunderliche Gasterei‘ vor, eine wurstige Schauermär der Brüder Grimm über Grenzen der Gastfreundschaft. Mirjam Rast darf stolpern und straucheln, dass es eine Art hat; als gestandene Stuntfrau beherrscht sie diese Kunst brillant. Fania Sorel vollführt Kabinettstückchen mit einem Gehilfen namens Gehhilfe, Miquel de Jong gibt einen biegsamen Zwangshändler, Guido Gallmann stiert in einer Rollstuhlrolle in eine ihm auf Dauer fremde Gegend. […] Schöner Schlusspunkt sind variantenreiche Wasserspiele, die Fiaux und Gallmann spektakulär rutschend bestreiten. […] (Eine) grandiose, mit stürmischem Beifall bedachte Inszenierung. […]“
    Hendrik Werner, Weser Kurier, 4. Juni 2018

    „ […] Diese perfekte Turnhallen-Illusion ließ Thomas Rupert im 1960er-Jahre-Design als eine Art Anna-Viebrock-Raum bauen. Passend dazu marthalern die eigenbrötlerischen Bewohner kauzig erschlafft um ihre Würde. […] Wellenreiten zwischen der berühren wollenden Trostlosigkeit geistiger Zerrüttung und der Zuspitzung dementen Verhaltens zu Momenten absurden Theaters. Was auf unsentimentale Art komisch ist. Hinreißend macht das Nadine Geyersbach. […] Nicht über sie wird gelacht, sondern mit ihr über ihre Komödiantinkunst und mit ihrer Figur über den entrückt juvenilen Seniorenspaß. Später auch über die Komik, die mit dem Gedächtnisverlust einhergeht. Nicht aber über die Tragik – wie Menschen mit Löchern im Kopf launisch, reizbar, verletzend, Ich-bezogen werden. Sensibel für die Abgründe des Komischen und Banalen baut Regisseurin Alize Zandwijk spannungsgeladene Bilder und entwickelt daraus szenische Schlaglichter, die das Abdriften ins Vergessen fokussieren. Dabei häufig in fassungslose Stille münden. […] Das zeichnet die Produktion aus: der Mut hinzuschauen beim Zerfall – dem Welken, Altern, demenziellen Dahinsiechen. Dass dieser Schrecken ernst genommen, einander mit Empathie begegnet und alles mit Humor abgefedert wird, das macht ihn leichter unerträglich.“
    Jens Fischer, nachtkritik.de, 2. Juni 2018

    „ […] Es ist eine gute Idee, sich diesem Thema auch auf der Theaterbühne anzunähern. Das Vergessen, das Hauptmerkmal dieser Krankheiten, äußert sich ebenso stark körperlich wie geistig. So ist auch die Entscheidung, spartenübergreifend zu arbeiten, folgerichtig. […] Die Bühne (eine überzeugende Arbeit des Bühnenbildduos Thomas Rupert und Nanako Oizumi) zeigt eine Turnhalle vergangener Zeiten. […] Kaleidoskopartig sieht man unterschiedliche Szenen mit verschiedenen Charakteren, die dem Theaterabend berührende wie witzige Momente und Bilder bescheren. […] Zu all dem liefert Maartje Teussink mit Tuba, Gitarre und Gesang wirklich einen tollen Soundtrack! […] ,Amour‘ bietet einen abwechslungsreichen Blick auf das Thema Demenz mit einem engagierten Ensemble in einem überzeugenden Bühnenbild. Zandwijk hat einen Sinn fürs Absurde, was zum Thema Demenz sicherlich passt. […]“
    Martina Burandt, tanznetz.de, 6. Juni 2018