„Ein Raum, in dem inklusive Kunst wachsen kann – und nicht nur überleben muss“
Über Zurückkehren, Großzügigkeit und Verbindung: Josep Caballero García, Choreograf von The Tide im Gespräch mit der Co-Leitung der Tanz-Sparte, Alexandra Morales.
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Alexandra Morales: Josep, du hast von 2001 bis 2006 im Ensemble von Urs Dietrich hier am Theater Bremen getanzt. Wie erinnerst du dich an diese Zeit und eure Arbeit?
Josep Caballero García: Für mich war die Zeit in Bremen einer der schönsten und wichtigsten Abschnitte meiner Karriere. Ich war damals auf der Suche nach einer Kompanie, in der ich mich als Tänzer weiterentwickeln konnte. Urs Dietrich sah mich in einer Vorstellung in Berlin und lud mich als Gasttänzer für eine Produktion nach Bremen ein. Ich kannte sein Werk bereits von der Folkwang Hochschule und habe keinen Moment gezögert, seine Einladung anzunehmen. Danach bot er mir einen festen Vertrag im Ensemble an – und ich habe zugesagt. Seine Arbeit gab mir genau das, was ich damals suchte: Aus der Folkwang-Tradition heraus eine zeitgenössischere, sehr körperliche Bewegungspraxis zu finden, und diese gleichzeitig mit dem emotional-theatralen Ansatz zu verbinden, den ich dort gelernt hatte. Urs gab uns viel Freiheit, unser eigenes Bewegungsvokabular zu erforschen. Das machte die Zusammenarbeit unglaublich bereichernd – künstlerisch wie menschlich. Wir hatten damals auch die Möglichkeit, als junge Choreograf:innen eigene Stücke zu entwickeln. Dort habe ich meine ersten choreografischen Arbeiten realisiert, was in mir den Wunsch geweckt hat, selbst Stücke zu kreieren. Als Choreograf in einer festen Struktur zu arbeiten, mit den technischen Möglichkeiten eines Theaters – Bühne, Kostümabteilung, Ausstattung – war für mich eine ganz entscheidende Erfahrung.
Fast zwanzig Jahre später bist du nach Bremen zurückgekommen, diesmal in einer anderen Rolle. Wie ist es für dich, wieder hier zu sein?
Das Theater, die Menschen, die Stadt – alles fühlt sich unglaublich vertraut an. Manchmal, wenn ich aus der Probe komme, überfallen mich ganz widersprüchliche Gedanken und Gefühle. Es ist, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen oder als wäre ich aus einem langen Traum aufgewacht und plötzlich wieder in meiner Bremer Zeit gelandet. Die Tanzkompanie hat heute eine völlig andere Struktur. Die künstlerische Leitung liegt nicht mehr bei eine:r einzelnen Choreograf:in, die Tänzer:innen müssen dadurch noch vielseitiger sein und haben die Chance, sich mit sehr unterschiedlichen choreografischen Handschriften auseinanderzusetzen. Und wenn ich ehemaligen Kolleg:innen begegne, dann fällt mir auf: Ihr Haar ist inzwischen weiß! Wenn ich selbst in den Spiegel auf der Probebühne schaue, merke ich natürlich auch, dass die Jahre vergangen sind und dass sich die Welt stark verändert hat, seit ich Bremen verlassen habe. Manche von euch – dich, Gabrio, Samir und Nora – kenne ich noch aus der Folkwang-Zeit. Nora war später auch am Theater Münster bei Daniel Goldin, was ebenfalls eine wichtige Phase meiner Tanz-Karriere war. Mit Samir habe ich in derselben Klasse studiert. Wir haben so viel gemeinsam erlebt. Es fühlt sich an, als würden all meine vergangenen Lebens- und Arbeitsphasen in diesem Moment zusammenkommen. Das ist etwas ganz Besonderes, fast surreal.
Ich erinnere dich als Tänzer mit einer starken Tanztechnik, der viele Solos und Duette tanzte. Als ich dich nach vielen Jahren in Hamburg als Choreograf wieder traf, war ich beeindruckt von der anderen Seite, die ich an dir entdecken konnte. Wie wurdest du vom Tänzer zum Choreografen?
Eigentlich fing alles ganz früh an. Als ich mit 15 Jahren angefangen habe, Tanzkurse zu besuchen, ging es mir vor allem darum, mich durch Bewegung auszudrücken und meine eigenen Ideen auszuprobieren. Später habe ich an verschiedenen Schulen in Barcelona und Frankreich studiert, bevor ich schließlich an die Folkwang Hochschule kam. Danach folgten die Jahre in Bremen – insgesamt war ich bestimmt fünfzehn Jahre als Tänzer unterwegs. 2006 habe ich meinen Vertrag in Bremen gekündigt. Nicht, weil ich das Tanzen nicht mehr mochte, sondern weil das reine Interpretieren für mich immer enger wurde. Ich hatte ein starkes Bedürfnis, selbst zu kreieren und meine Erfahrungen an andere Tänzer:innen weiterzugeben. Danach ging ich nach Berlin und habe mich in die Freie Szene gestürzt. Die ersten sieben Jahre waren hart: keine Jobs, keine Strukturen, nichts, woran ich mich festhalten konnte. Fast zufällig kam ich dann zu Projekten mit Kindern und Jugendlichen. Und da habe ich gemerkt, wie sehr mir das liegt. Ein paar Jahre später bekam ich dann die Möglichkeit einer achtmonatigen Residenz am K3 – Tanzplan Hamburg. Das war ein Wendepunkt. Von da aus ging es weiter zu Produktionen bei Kampnagel in Hamburg und am HAU in Berlin. Meine choreografische Arbeit hat zwar mit Recherchen zur Tanzgeschichte und meiner eigenen Biografie als Tänzer angefangen, aber ziemlich schnell hat sie sich in Richtung diverser und nicht-normativer Körper bewegt. Und heute ist meine künstlerische Praxis eng verbunden mit meiner Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und verschiedenen Communities – queer, mit Migrationsgeschichte, neurodivers.
Für The Tide haben wir dich eingeladen, neben unserer Kompanie Unusual Symptoms auch mit Tänzer:innen von tanzbar_bremen zu arbeiten. Wie empfindest du die Zusammenarbeit?
Ich muss sagen, dass ich am Anfang gar nicht genau wusste, was mich erwartet – und wie sich in den ersten Probentagen gezeigt hat, wussten es die Tänzer:innen auch nicht. Aber wir hatten alle etwas gemeinsam: den Wunsch und die Lust, zusammen ein Stück zu entwickeln. Und das war eine wunderbare Grundlage! Nach und nach haben sich die Tänzer:innen geöffnet, Vertrauen aufgebaut und echte Neugier füreinander entwickelt. Unusual Symptoms hatten ja bereits Erfahrungen mit inklusiven Produktionen, das hat mir sehr geholfen, eine wirklich horizontale Arbeitsweise zu entwickeln – ohne Hierarchien, geprägt von großer Offenheit. Was mich dabei besonders fasziniert hat, ist wie selbstverständlich und großzügig beide Gruppen miteinander gearbeitet haben, mit großem Respekt, Humor, Geduld und gegenseitiger Unterstützung. Gleichzeitig herrschte eine ungemeine Kreativität, die ständig neue Impulse in den Probenraum gebracht hat. Ich bin wirklich begeistert – diese Großzügigkeit und Offenheit hat mich stark inspiriert.
Gerade mit Blick auf inklusvie Arbeit, wo siehst du den Unterschied zwischen der Arbeit in der Freien Szene und in einem Stadttheater?
Für mich geht es weniger um einen grundsätzlichen Unterschied in der künstlerischen Arbeit selbst, sondern vielmehr um die Rahmenbedingungen, die ein Stadttheater bieten kann. In einem Haus wie eurem hat man ganz andere strukturelle Möglichkeiten: mehr Personal, feste Ansprechpartner:innen, mehr Kontinuität – und natürlich auch mehr finanzielle Ressourcen. Genau das fehlt in der Freien Szene oft. Dort arbeitet man permanent mit knappen Budgets, und gerade inklusive Produktionen brauchen eigentlich viel Begleitung, viele Hände, viele Augen – und viele Herzen. Inklusives Arbeiten ist komplex, im besten Sinne. Es braucht Zeit, Kommunikation, Pausenräume, Assistenz, Vermittlung und Moderation. In der Freien Szene jongliert man all diese Bedürfnisse mit minimalen Mitteln, was oft bedeutet, dass Teammitglieder mehrere Rollen gleichzeitig übernehmen müssen. Im Stadttheater erlebe ich, dass die Struktur uns trägt: Produktionsleitung, Technik, Dramaturgie, Probenbetreuung – all das ist da und ermöglicht, dass wir uns stärker auf den künstlerischen Prozess konzentrieren können. Ich sehe natürlich, dass das Haus selbst noch in einem Transformationsprozess steckt und versucht, Barrieren Schritt für Schritt abzubauen. Aber genau diese strukturelle Stabilität macht es möglich, inklusiv zu arbeiten, ohne ständig an die Grenzen der Belastbarkeit zu kommen. Ich habe in diesem Projekt wirklich gespürt, wie wertvoll es ist, wenn eine Institution solche Arbeit nicht nur ermöglicht, sondern aktiv unterstützt. Dadurch entsteht ein Raum, in dem inklusive Kunst tatsächlich wachsen kann – und nicht nur überleben muss.
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‘A space where inclusive art can grow – and not just survive’
On returning, generosity and connection: Josep Caballero García, choreographer of The Tide, in conversation with Alexandra Morales, co-director of the dance department.
Alexandra Morales: Josep, you danced in Urs Dietrich's ensemble here at Theater Bremen from 2001 to 2006. How do you remember that time and your work?
Josep Caballero García: For me, my time in Bremen was one of the most wonderful and important periods of my career. At the time, I was looking for a company where I could develop as a dancer. Urs Dietrich saw me in a performance in Berlin and invited me to Bremen as a guest dancer for a production. I was already familiar with his work from the Folkwang University of the Arts and didn't hesitate for a moment to accept his invitation. After that, he offered me a permanent contract in the ensemble – and I accepted. His work gave me exactly what I was looking for at the time: to find a more contemporary, very physical movement practice based on the Folkwang tradition, and at the same time to combine this with the emotional-theatrical approach I had learned there. Urs gave us a lot of freedom to explore our own movement vocabulary. That made the collaboration incredibly enriching – both artistically and personally. At that time, we also had the opportunity to develop our own pieces as young choreographers. That's where I realised my first choreographic works, which awakened in me the desire to create pieces myself. Working as a choreographer in a fixed structure, with the technical possibilities of a theatre – stage, costume department, equipment – was a very decisive experience for me.
Almost twenty years later, you came back to Bremen, this time in a different role. How does it feel to be back here?
The theatre, the people, the city – everything feels incredibly familiar. Sometimes, when I come out of rehearsal, I am overcome by very contradictory thoughts and feelings. It's as if no time has passed at all, or as if I've woken up from a long dream and suddenly found myself back in my time in Bremen. The dance company has a completely different structure today. The artistic direction is no longer in the hands of a single choreographer, which means that the dancers have to be even more versatile and have the opportunity to engage with very different choreographic styles. And when I meet former colleagues, I notice that their hair is now white! When I look at myself in the mirror on the rehearsal stage, I naturally also notice that the years have passed and that the world has changed a lot since I left Bremen. I still know some of you – you, Gabrio, Samir and Nora – from my time at Folkwang. Nora later joined Daniel Goldin at Theater Münster, which was also an important phase in my dance career. I studied in the same class as Samir. We experienced so much together. It feels as if all the different phases of my life and work are coming together at this moment. It's something very special, almost surreal.
I remember you as a dancer with strong technique who danced many solos and duets. When I met you again many years later in Hamburg as a choreographer, I was impressed by the other side of you that I discovered. How did you go from being a dancer to a choreographer?
Actually, it all started very early on. When I started taking dance classes at the age of 15, my main focus was on expressing myself through movement and trying out my own ideas. Later, I studied at various schools in Barcelona and France before finally coming to the Folkwang University of the Arts. This was followed by years in Bremen – I was definitely on the road as a dancer for a total of fifteen years. In 2006, I terminated my contract in Bremen. Not because I no longer enjoyed dancing, but because pure interpretation was becoming increasingly restrictive for me. I had a strong need to create myself and pass on my experiences to other dancers. After that, I went to Berlin and threw myself into the independent scene. The first seven years were tough: no jobs, no structures, nothing to hold on to. Almost by chance, I then got involved in projects with children and young people. And that's when I realised how much I enjoyed it. A few years later, I was offered an eight-month residency at K3 – Tanzplan Hamburg. That was a turning point. From there, I moved on to productions at Kampnagel in Hamburg and HAU in Berlin. My choreographic work began with research into dance history and my own biography as a dancer, but it quickly moved in the direction of diverse and non-normative bodies. And today, my artistic practice is closely linked to my work with children, young people and various communities – queer, with a history of migration, neurodiverse.
For The Tide, we invited you to work with dancers from tanzbar_bremen in addition to our company Unusual Symptoms. How do you feel about the collaboration?
I have to say that at the beginning I didn't really know what to expect – and as the first few days of rehearsals showed, neither did the dancers. But we all had something in common: the desire and enthusiasm to develop a piece together. And that was a wonderful foundation! Gradually, the dancers opened up, built trust and developed genuine curiosity about each other. Unusual Symptoms already had experience with inclusive productions, which helped me a lot to develop a truly horizontal way of working – without hierarchies, characterised by great openness. What particularly fascinated me was how naturally and generously both groups worked together, with great respect, humour, patience and mutual support. At the same time, there was an extraordinary creativity that constantly brought new impulses into the rehearsal room. I am really thrilled – this generosity and openness has inspired me greatly.
Especially with regard to inclusive work, where do you see the difference between working in the independent scene and in a municipal theatre?
For me, it's less about a fundamental difference in the artistic work itself and more about the framework conditions that a municipal theatre can offer. In a theatre like yours, you have completely different structural possibilities: more staff, permanent contact persons, more continuity – and, of course, more financial resources. That's exactly what's often missing in the independent scene. There, you are constantly working with tight budgets, and inclusive productions in particular actually need a lot of support, many hands, many eyes – and many hearts. Inclusive work is complex, in the best sense of the word. It takes time, communication, break rooms, assistance, mediation and moderation. In the independent scene, you juggle all these needs with minimal resources, which often means that team members have to take on several roles at once. At the municipal theatre, I find that the structure supports us: production management, technical departments, dramaturgy, rehearsal director – all of this is there and allows us to focus more on the artistic process. Of course, I can see that the theatre itself is still in a process of transformation and is trying to break down barriers step by step. But it is precisely this structural stability that makes it possible to work inclusively without constantly reaching the limits of our capacity. In this project, I really felt how valuable it is when an institution not only enables such work, but actively supports it. This creates a space in which inclusive art can actually grow – and not just survive.
Veröffentlicht am 26. November 2025.