Soprane fand ich am schlimmsten, und jetzt bin ich selber einer.

Marysol Schalit über einen zauberhaften Sinneswandel. Ein Gespräch mit Brigitte Heusinger.

Marysol Schalit hält einen Rekord, eher einen traurigen: Wiederaufnahme Liebestrank gestoppt, Alcina-Serie abgebrochen, Falstaff vor der Generalprobe gekippt. Seit der neuen Saison Imagine nur kurz gespielt und die neue Zauberflöte eingefroren.

Wir treffen uns am Tag nach der Generalprobe der Zauberflöte.

Bis jetzt hatte es Marysol, wie man in ihrem Heimatland, der Schweiz, sagen würde, „streng“. Denn seit Mitte September probte sie – zum Teil parallel –  zwei Produktionen, eben den John Lennon-Liederabend und die Mozartoper. Und ab Montag muss sie eine neue Partie studieren, die Titelfigur aus Janaceks Das schlaue Füchslein – „ein völlig neues musikalisches Terrain für mich“, wie sie sagt.

Doch wie fühlt man sich, wenn man morgens und abends gearbeitet hat, kaum einen freien Tag genießen konnte und jetzt keine Vorstellungen spielt?

„Schräg“, sagt sie und macht eine lange Pause, „leer“. Doch jetzt ist es schon fast Alltag, immer wieder aus dem Tritt zu fliegen. Das war im März beim Abbruch der Falstaff-Produktion noch anders. „Eine schmerzhafte Erfahrung, ich war total verwirrt, wie aus der Welt geworfen.“ Eine ganze Woche habe sie gebraucht, um dieses Gefühl, das sie mit einer Amputation vergleicht, loszuwerden und ihren Frieden mit der Situation zu finden. Umso dankbarer war sie, als der Liederabend Imagine Mitte Oktober zur Premiere kam. Endlich wieder Kontakt mit dem Publikum, das den Abend euphorisch feierte. Mitten in Klang steht sie, vor sich die Band, hinter ihr das Orchester, neben ihr der Kollege Christoph Heinrich aus dem Opernensemble und die Schauspieler*innen Martin Baum, Annemaaike Bakker und Bernd Hölscher. Wie ist denn das so? „Laut“, sagt sie, aber toll.

Ihr erster Ausflug in das Poprepertoire war für sie eine Entdeckung.

„Außer Imagine kannte ich keinen der Songs, die wir am Abend singen, aber ich mag sie alle. Total verschieden und hoch emotional.“ Ein wenig Sorge hatte sie wegen des ungewohnten Gesangsstils und so hoffte sie, dass ihre Stimme „nicht müde würde“. Das Gegenteil sei der Fall gewesen. Sie habe profitiert, das Singen habe sie entspannt und näher an die eigene Stimme geführt.

„Ich habe mehr über meine Naturstimme gelernt, über ihre Tiefe.“

Wir sprechen darüber, dass selbst Popfeinde oder Verächter der leichten Muse den Abend mögen. Keiner geht unbeeindruckt aus ihm heraus, auf irgendeine Weise erwischt er jeden – gerade durch die Mischung von Musik und den Texten, die etwas über Lennon und seine Zeit erzählen. Sie fasst es als Kompliment auf, dass kaum erkennbar ist, wer aus welchem Ensemble kommt. „Wir sind gemeinsam eine geballte Kraft.“ 

Doch auch bei der Schilderung ihrer Imagine-Erfahrung mischt sich Trauer in die Freude.

„Die Energie fließt vom Publikum auf die Bühne, das wird an so einem Abend deutlich. Da ist es schon ein Unterschied, ob 100 oder 800 Menschen im Publikum sitzen, selbst wenn der Jubel groß ist.“ Noch merkwürdiger sei gewesen, dass kein richtiges Premierenfeeling aufkommen konnte. „Ich habe deutlich empfunden, wie wichtig unsere Rituale sind. Und wie sehr sie fehlen. Kein Sekt auf der Hinterbühne, keine Umarmungen nach der Vorstellung, keine Rede von Michael Börgerding im Foyer. Normalerweise wird gefeiert, und die ganze Anspannung fällt von einem ab. Jetzt bleibt man im Leeren stehen. Das ist hart.“

Das Engagement von Marysol Schalit verdankt das Theater Bremen übrigens dem isländischen Vulkan Eyjafjallajökull.

Oder vielmehr der Aschewolke, die bei seinem Ausbruch im März 2010 den Flugverkehr verhinderte. In Düsseldorf hatte Marysol einer Agentur vorgesungen und sollte direkt danach nach La Gomera fliegen, wo ein Konzert auf sie wartete. Doch der Flug fiel ins Wasser, und so konnte die neue Agentur ein Vorsingen im hohen Norden vermitteln. Das Vorsingen lief gut. Bremen wollte sie. Sie allerdings haderte wegen der Entfernung zu ihrer Heimat, sagte dann aber doch „wegen der superguten Partien“ zu. Und ist nach zehn Jahren immer noch hier.

Während dieser Zeit hat sie die Zauberflöte immer begleitet.

Gleich in der ersten Spielzeit stieg sie als Papagena in die fertige Produktion ein. Schon in der nächsten Saison sang sie Pamina. „Ich hatte mir für die Rolle im gesteckten Rahmen der Regie etwas Eigenes gebastelt.“ Bei der neuen Zauberflöte, die Anfang November hätte Premiere haben sollen, könne sie jetzt gemeinsam mit Regisseur Michael Talke „hinter die Ecken der Partie schauen“. Mit ihm verbindet sie eine lange und vertraute Zusammenarbeit. Zuletzt war sie „seine Alcina“. Eine Rolle, die neben der Lulu in der letzten Zeit wichtig und prägend war. Einige, zu wenige, Zuschauer*innen haben ihre Arie „Ah! Mio cor“ gehört und gesehen, wie sie zutiefst berührend Gefühlskaskaden – Trauer, Verzweiflung, Wut, Demut, Hingabe –  so vor den Zuschauer*innen ablaufen ließ, dass sie nicht nur zuschauten, sondern die Emotionen im Moment selber empfanden. Die große Kunst einer Sängerdarstellerin wie Marysol Schalit eben eine ist.  

Ob sie bei solchen Auftritten selber in den Gefühlen versinken oder vollständig die Kontrolle behalten würde, frage ich sie.

Sie lacht: „Da schlägt der Betrieb zu“. Doch dann spürt sie noch mal nach: „Direkt nach der Arie war Pause. Ich gehe von der Bühne und muss – brrrr – sofort in die Maske. Ich sitze dann da. Mir wird eine Glatze geklebt. Langsam, ganz langsam komme ich runter vom Schmerztrip und verwandele mich in die alte Frau, die ich nach der Pause sein werde.“ Wolltest du eigentlich schon immer auf die Bühne? Ja, aber eigentlich sei Schauspielerin ihr Traumberuf gewesen.

„Singen lag mir fern. Ich fand Oper ziemlich langweilig, so künstlich. Soprane fand ich am schlimmsten, und jetzt bin ich selber einer.“

Man spürt, dass sie mit ihrer Berufswahl prinzipiell im Reinen ist, aber nicht immer: „Es ist ein anstrengender Beruf. Als ich mein Studium angefangen habe, hatte ich keine Ahnung, was es bedeutet, Sängerin zu sein. Darauf bereitet einen keiner vor.“ Das Dahinleben, was sie immer wieder gerne täte, wäre dem Urlaub vorbehalten. Und dass man auf das kleinste Kratzen im Hals panisch reagieren würde, weil man bei einer angeschlagenen Stimme gleich befürchte würde, eine Vorstellung absagen zu müssen – „schrecklich!“ Diese Probleme hat sie gerade nicht.

Wie gerne würde sie jetzt als Pamina auf der Bühne stehen.

In dieser Partie, die stimmlich genau zum richtigen Zeitpunkt kommt. Und auch Michael Talkes märchenhafte und doch psychoanalytische Sicht auf die Oper findet sie spannend. Er interpretiert Sarastro und die Königin der Nacht als Elternfiguren, von denen die Kinder Tamino und Pamina sich lösen müssen, um als zukünftiges Herrscherpaar für eine bessere Welt zu sorgen. Und sie tun es gemeinsam. „Pamina ist kein schmückendes Beiwerk mehr, ganz im Gegenteil. Sie handelt nach ihren eigenen Überzeugungen und ermutigt Tamino ihrem Lebensweg zu folgen. In dieser Inszenierung übernehme ich Verantwortung für mein Leben. Ich bin eine starke Frau.“ 

Ende eines Gespräches. Doch am nächsten Morgen kommt diese Mail:

„Mir kam plötzlich in den Sinn, dass ich eigentlich Dank der Zauberflöte auf dieser Welt bin, da meine Eltern sich bei der Zauberflöte im Stadttheater Bern kennengelernt haben. Mein Vater saß mit der Partitur auf dem Schoß und meine Mutter mit einem Opernglas vor den Augen in der Vorstellung. Nach der Pause saßen sie dann nebeneinander und tauschten das Opernglas gegen die Partitur, und die Geschichte nahm ihren Lauf. Somit hat diese Oper schon rein durch diese Begebenheit eine ganz besondere Bedeutung für mich.“​