Theater als Form des Angriffs? Für Wajdi Mouawad reise ich auch nach Paris

Radio Bremen Zwei-Redakteur Marcus Behrens über seine Begegnungen mit Wajdi Mouawad – ein Gastbeitrag

Ob Wajdi Mouawad auch mal schläft? Das habe ich mich bereits häufiger gefragt. Dem im Herbst 1968 im Libanon geborenen und als kleiner Junge mit seinen Eltern Mitte der 1970er Jahre vor dem Bürgerkrieg zunächst nach Paris geflüchteten und dann weiter nach Kanada ausgewanderten Schriftsteller, Regisseur, Schauspieler und Theaterleiter gelingt es in seinen Werken immer wieder aufs Neue, Familientragödien, wie man sie in ihrer Dramatik und Schrecklichkeit nicht erfinden kann, unterschiedliche religiöse und auch politische Konflikte aus Vergangenheit und Gegenwart in unser aller Alltag zu transportieren und sie mit der existentiellen Wucht eines griechischen Dramas zu würzen, damit sich auch wirklich alle angesprochen fühlen. Mouawad hat mal gesagt, dass ihm die griechischen Tragödien dabei helfen, die Tragödien der heutigen Welt zu verstehen.

Wajdi Mouawad fordert sein Publikum – inhaltlich, sprachlich, historisch. Er setzt ebenso auf die Ausdauer seiner Zuschauerinnen und Zuschauer, wie auf die Weltoffenheit der Menschen im Saal – sei es in Montreal, in Paris oder in Tel Aviv. Am Theater Bremen beschäftigt sich nun mit Alize Zandwijk, der Leitenden Regisseurin des Schauspiels eine Frau mit dem Werk, die sich in ihrer eigenen Geschichte immer wieder mit dem Miteinander von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen – Ländern – Religionen und mit unterschiedlichen Geschichten, Vorurteilen und Träumen dieser Menschen beschäftigt hat, zuletzt in Mütter im Foyer des Theaters am Goetheplatz. Das macht nochmals besonders neugierig auf das Ergebnis.

Alle Vögel  … waren bereits da

Für Vögel, das 2017 als „Tous des Oiseaux“ („Alle Vögel“) im Pariser Théâtre National de la Colline, das Mouawad als Direktor seit 2016 leitet, uraufgeführt wurde, stand das französische Publikum vor einer Herausforderung: Die Geschichte, die in rund vier Stunden erzählt wird, kommt ohne ein einziges Wort Französisch aus – stattdessen sprechen die Schauspielerinnen und Schauspieler Englisch, Deutsch, Hebräisch und Arabisch – natürlich wird alles in Französisch übertitelt, aber als Zuschauer konnte ich die Augen nicht von der Bühne lassen. Trotzdem gehört diese Inszenierung, bei der ich sogar noch den Vorteil gegenüber vielen anderen Zuschauerinnen und Zuschauern im Saal hatte, Englisch und Deutsch problemlos zu verstehen, zu den besten, die ich jemals gesehen habe – auch ohne Hebräisch- und Arabischkenntnisse meinerseits.

Dem Publikum in Bremen wird der Einstieg in die Welt von Wajdi Mouawads Werk Vögel dadurch erleichtert, dass hier eine Fassung auf die Bühne kommt, die auf der kompletten deutschen Übersetzung basiert, für die Uli Menke verantwortlich ist, wie auch für viele andere, bisher ins Deutsche übertragene, Theatertexte von Mouawad. Menke war bei diesem Stück besonders nah dran am Text, weil er auch an der Übertitelung des Originals gearbeitet hat.

Konflikte, aber keine Lösungen

In Vögel wird der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ebenso thematisiert, wie die jüngere Deutsche Geschichte – in Berlin und in Form von Norah, die in der DDR aufgewachsen ist und erst nach dem Fall der Mauer zum Judentum findet und von David, der mit seinem Vater aus Israel hierher zurückgekehrt ist. Wie zionistisch David ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er es unter keinen Umständen duldet, dass sein eigener Sohn, Eitan, der sich in New York in Wahida verliebt hat – einer Frau mit arabischen Wurzeln – diese Frau auch heiratet.

Vögel bietet – wie alle Werke Mouawads – ausreichend Stoff, um sich vor dem Besuch einer Vorstellung im Theater mit der Thematik – und noch lange nach dem letzten Vorhang damit auseinander zu setzen, in was für einer Welt wir alle heute leben und wie Mouawad es schafft, so viele echte Probleme und so wenig vorhandene Lösungen in seinen Texten zu verarbeiten. Dabei sind die fehlenden Lösungen auch nichts, was ich von einem Theaterautoren erwarte. Mouawads Kunst liegt darin, Tatsachen unseres Lebens geradezu perfektionistisch zu beschreiben. Den Transfer in unseren eigenen Alltag müssen wir schon selbst leisten. Denkanstöße dafür gibt es aber mehr als genug in seinen Werken.

Theater als Form des Angriffs

Zum ersten Mal begegnet bin ich Wajdi Mouawad beim Kaffee im Frühjahr 2017 auf dem alten Messegelände in Strasbourg. So bereitwillig er auf alles antwortete, so war doch klar, dass seine bevorzugten Formen des Ausdrucks das Schreiben und Theaterspielen sind. Es ist ganz offensichtlich, dass Theater für Mouawad einfacher zu greifen ist als Literatur ohne die Verbindung zur Bühne. Mouawad brauchte – und nutzt – die Verbindung aus beidem, um all‘ das herauszuschreien, was Krieg, Flucht, Exil in ihm aufgestaut hatten. „Theater ist für mich eine Form des Angriffs; der Zuschauer ist unschuldig, er kommt, er sitzt, er weiß nicht was er sehen wird und dann ... boom! Er kommt zerschlagen von dem heraus, was er gesehen und gehört hat.“  [Übersetzung aus der Zeitung ‚La Croix‘ vom 23. November 2018]

Das Theater von Wajdi Mouawad lebt für mich von einem kompromisslosen Miteinander der Texte, der Handlung, der Schauspielenden, der Regie, des Bühnenbildes, des Lichts, der Bewegungen, der Umbauten und nicht zuletzt des gesamten Teams im Theater. Selten habe ich Schauspiel so stimmig auf der Bühne gesehen, wie in den Vorstellungen, in denen Mouawad sein eigenes Werk inszeniert hatte. Das hat bei mir dazu geführt, dass ich direkten Zugang zu jedem Wort, jedem Blick und jeder Aussage hatte, so als wäre ich selbst Teil des Geschehens auf der Bühne und würde tatsächlich mit allen Konflikten direkt konfrontiert. Es braucht diese Forms des Theaters, um den Menschen die Augen für die Realität zu öffnen, die sie sonst niemals würden sehen wollen. Wajdi Mouawad gelingt dieses Kunstwerk seit mehr als 30 Jahren und seine Stücke bleiben eine Herausforderung für alle anderen – das Publikum, die Regisseure, die Schauspielerinnen und Schauspieler.