Tiefe Einblicke ins Erwachsenwerden
Choreograf Tomas Bünger und einige Mitspieler aus dem Team Frühlingserwachen geben Einblicke in ihre Arbeit. Diana König hat nachgefragt.
„Erwachsenwerden bedeutet zuallererst einmal lernen, so viel Verantwortung wie möglich zu übernehmen. Gegenüber sich selbst, gegenüber der Familie und Freunden und schlussendlich gegenüber der Gemeinschaft im Großen und Ganzen. Natürlich sind uns hinsichtlich dieser Aspekte Grenzen auferlegt, so dass absolute Verantwortung zu übernehmen eigentlich unmöglich wird.
Richtig erwachsen kann man unter diesen Umständen also nicht wirklich werden. Zumindest aus meiner Sicht“, sagt Thorin Sieger, einer von elf jungen Männern, die bei dem Projekt Frühlingserwachen auf der Bühne stehen.
„Ich kann meine Rolle sehr gut, weil ungefähr alles von mir ist, also das bin ich.“ (Ayman Abdulazeez)
Seit August 2019 proben Regisseurin Alize Zandwijk und Choreograf Tomas Bünger ausgehend von Wedekinds Text Frühlings Erwachen mit dem über ein offenes Casting zusammengestellten Team. Ein langer Prozess, in dem sich vieles entwickelt und verändert hat, Tomas Bünger: „Wir haben uns mit allem Respekt schließlich von Wedekinds Text wegbewegt, weil wir gemerkt haben, dass die eigene Sprache und die eigenen Texte der jungen Männer etwas mit uns gemacht haben, dass wir deren Themen aufnehmen möchten – mit der Inspiration von Wedekinds Geschichte: Erwachsenwerden, Sexualität, Todessehnsucht.“
„Ich mache Theater, weil man auf der Bühne alles sein kann, ohne dass man verurteilt wird.“ (Aziz Kaya)
Ganz unterschiedliche Geschichten haben die Spieler durchlebt, manche haben eine Fluchterfahrung hinter sich, andere haben Migrationshintergrund, einige leben schon immer in Bremen. Alle werden groß – und das ist das Verbindende, sagt Bünger: „Die jeweiligen Hintergründe der Jungen stehen in der Gruppe nebeneinander und werden nicht bewertet, man kann auch am Leben leiden, wenn man vermeintlich alles hat. Und im Stück geht es um Sehnsucht in den verschiedensten Bereichen. Wir spielen dabei aber mit viel Spaß, auf die Bühne kommen nicht nur die dunklen Seiten, auch die Lust, am Leben zu sein, ist ein großes Thema.“ Die selbstgeschriebenen und in der Improvisation entstandenen Texte stehen dabei gleichberechtigt neben den entwickelten tänzerischen Ausdrucksformen, so wird auf der Bühne die eigene körperliche Veränderung, das eigene Erwachsenwerden nicht nur sprachlich befragt, sondern auch sinnlich zum Scheinen gebracht.
„Tanz bedeutet für mich, der Seele den Eingang nach außen zu öffnen.“ (Sam Hemati)
Tomas Bünger macht schon seit vielen Jahren Projekte mit Jugendlichen und auch Alize Zandwijk arbeitet nicht zum ersten Mal mit Laien auf der Bühne. Man sei im Bürgertheater anders mit der Gesellschaft in Kontakt, sagt Bünger, „in einem Ensemble aus Jugendlichen ist sie einfach anders repräsentiert, ein tatsächlicher Querschnitt, ein wirklich diverses Ensemble steht da einfach auf der Bühne.“ Und das macht Bünger, selbst Tänzer, Spaß, denn in der Arbeit entsteht etwas anderes, als in der Arbeit mit Profis: „Die gehen nicht in die Klischeebewegung der Tänzer*innen – es entstehen andere Bilder, die mich interessieren, weil sie etwas über Menschsein erzählen und man ist damit weg von den Schablonen im Tanz, die auch schön sind, aber diese haben eben auch eine eigene Schönheit – das ist für mich bereichernd.“
„Meine Haare sind mein Trademark und machen aus mir was Besonderes – man findet nicht jeden Tag einen rothaarigen Flüchtling.“ (Ismaeel Foustok)
„Wie zerbrechlich wir doch alle sind, darüber erfährt man an diesem Abend etwas“, sagt Tomas Bünger, „wenn man sich ein Foto von den Jungs anguckt, dann hat man sofort eine Meinung – und an diesem Abend erlauben sie uns, sie kennenzulernen. Man muss sich kennenlernen, nur darum kann es gehen. Man guckt sonst immer nur von außen, im Theater, was Alize und mir wichtig ist, ist es möglich, sich nahe zu kommen – jemandem ins Antlitz zu schauen, tiefer zu schauen.“