Vergessen Sie es! #3 Modedesignerin Sibilla Pavenstedt

Brigitte Heusinger, die leitende Dramaturgin des Musiktheaters, denkt über die Stadt nach, in der sie aufgewachsen ist: Bremen. Und manchmal trifft sie auch Bremer*innen. Dieses Mal die Modeschöpferin Sibilla Pavenstedt.

Wenn Sie die Kolumne gelesen haben – zweimal ist sie erschienen –, wissen Sie, dass sie nicht von guter Laune begleitet ist. Es liegt an den Begleitumständen und einigem anderen, aber ich will Sie nicht langweilen. Das kann ich dieses Mal auch gar nicht. Denn ich habe jemanden getroffen, der Feuer und Flamme war. Feuer und Flamme für die Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen ist: Sibilla Pavenstedt.

Ich bereite mich auf unser Treffen vor und lese über Sibilla Pavenstedt im Internet: 

„Es gibt viele Begriffe, die man mit Sibilla Pavenstedt in Verbindung bringen kann, denn sie ist eine Frau mit vielen Facetten und Leidenschaften: international renommierte Modeschöpferin, Dozentin, multikulturelle Netzwerkerin, Lebensgestalterin und Kunstschaffende. Nach dem Modedesign-Studium an der Akademie für Kunst und Musik in Bremen und dem Studio Berçot in Paris (1985–1990) wurde Sibilla Pavenstedt 1990 bereits für ihre erste Kollektion aus feinsten Gummifäden gehäkelter Kleider mit dem ‚Mode-Oscar‘ der Avantgarde in München ausgezeichnet. Es folgten weitere Preise und Auszeichnungen für ihre Arbeit. Ihre extravaganten und farbenfrohen Kollektionen wurden auch von internationaler Prominenz wie Jane Birkin, Laetitia Casta, Debbie Harry, Michelle Pfeiffer oder Franka Potente getragen und geliebt. Von Bremen über Paris und einen weiteren Showroom 1998 in New York zog es die gebürtige Bremerin wieder nach Norddeutschland: Hamburg ist inzwischen ihr Lebens- und Schaffensmittelpunkt.“

„Die Gegensätze in dieser Stadt, vor denen andere Menschen eher fliehen, habe ich immer gesucht.“

Wir sehen uns im Theatro. Um uns herum ist es laut. Sibilla Pavenstedt redet trotzdem ruhig, unaufgeregt, überlegt und doch –  und das ist in dieser Kombination selten – vehement leidenschaftlich. Sie hat mehr als ein Interview in ihrem Leben gegeben, das ist deutlich. 

 „Bremen ist groß genug, dass es genug zu sehen und zu erleben gibt und klein genug, dass man nicht vereinsamt.“ Sibilla Pavenstedts Lokalstolz ist unüberhörbar. Und sie glaubt, dass viele der Eigenschaften, die sie geprägt haben, mit dieser Stadt zu tun haben. Doch erstmal stellt sie Stadtvergleiche an: „Bremen ist für mich kein kleines Hamburg, sondern ein ‚Klein-Berlin‘. Und dann kommen die Stadtteil-Parallelen: Oberneuland ist mit dem Grunewald vergleichbar, Schwachhausen mit Charlottenburg, das Ostertor ist der Kiez, die Innenstadt die Museumsinsel.“ Wie Berlin sei Bremen eine Stadt der großen Unterschiede und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. „Die Gegensätze in dieser Stadt, vor denen andere Menschen eher fliehen, habe ich immer gesucht.“ Sie spiegeln sich auch in ihrer Biographie wider: „Ich bin sehr bürgerlich aufgewachsen und stamme väterlicherseits aus einer Familie, die hier schon seit dem Dreißigjährigen Krieg lebt. Mein Urururgroßvater war Senator. Auf der anderen Seite bin ich schon mit 18 Jahren ins Ostertor gezogen und habe dort eine ganz andere Welt erlebt.“ 

„Die norddeutsche, nicht immer charmante Art, die bedingt, dass man durchaus angeranzt oder angepöbelt wird, bedingt, dass man lernt, sich zu wehren.“ 

Als ihre Eltern in den Ferien waren, hat sie klammheimlich die Schule gewechselt: von der Gesamtschule am Vorkampsweg ins Alte Gymnasium. Noch heute hört sie die Stimme des Rektors: „Du weißt schon, dass du dann auch samstags zur Schule gehen musst.“ Die Innenstadt, das „intellektuelle Klima“, die starken Widersprüche, die heftigen Auseinandersetzungen im neuen Alten Gymnasium, das alles hat sie gereizt. Und auch die so völlig verschiedenen Menschen um sie herum, die Lehrer*innen  und Schüler*innen: „Ich hatte jüdische Freunde, Menschen, die in einer marxistischen Gruppe waren, andere, die aus ganz konservativen Familien kamen oder aus künstlerischen Kreisen.“ Eine ihrer besten Freundinnen war und ist immer noch Esther Haase, die bekannte Fotografin, die die diesjährige Porträtkampagne des Theater Bremen fotografiert hat. Ihre beiden Lebensläufe sind durchaus vergleichbar: Wie Ester Haase hat Sibilla Pavenstedt an der Hochschule für Künste studiert und danach eine internationale Karriere gestartet. Und sie sind beide das, was man starke Frauen nennt. Und das hat, findet Sibilla Pavenstedt, mit Bremen zu tun: „In Bremen – im Gegensatz zu anderen Städten, in denen man eher in einer Blase lebt – muss man sich positionieren. Die norddeutsche, nicht immer charmante Art, die bedingt, dass man durchaus angeranzt oder angepöbelt wird, bedingt, dass man lernt, sich zu wehren. Haltung wird eingefordert. Und dadurch, dass man sich in Bremen ja immer zwei- oder dreimal sieht, wird diese durchaus auch überprüft.“ In Hamburg könne man eine vorgetäuschte, aufgehübschte Fassade aufrechterhalten, in Bremen nicht.

Erstaunlicherweise finden wir beide, dass das Klima in den Bremer 70er und 80er Jahren gleichberechtigter war als an anderen Orten und zu anderen Zeiten.

Ich frage sie, wie sie gerade in Bremen, einer Stadt, die eben weniger auf Fassade Wert legt als andere Städte, auf Mode gekommen wäre? Es sei weniger die Mode gewesen, sagt sie, als die Kunst und eben das Handwerk. Früh habe sie sich das Häkeln, das Stricken selber beigebracht. Wir einigen uns darauf, dass es auch damit zusammenhängt, dass von uns Bremer Mädchen nicht verlangt wurde, gut in derlei Dingen zu sein. Und das war durchaus ein Anreiz, mit Handarbeit zu experimentieren – selbst ich kann Strümpfe stricken. „Ich bin im liberalen Klima meiner Familie vollständig gleichberechtigt erzogen worden und fast bis zu meinem 40. Lebensjahr habe ich bewusst keinerlei Diskriminierung als Frau erfahren. Das kam dann später“, sagt sie. Erstaunlicherweise finden wir beide, dass das Klima in den Bremer 70er und 80er Jahren gleichberechtigter war als an anderen Orten und zu anderen Zeiten. Heute ist das „Frausein“ für uns beide ein größeres Thema, natürlich auch, weil wir sensibilisierter sind, aber nicht nur.

Weil sie so aufgewachsen ist wie sie aufgewachsen ist, empfindet sie sich als Mensch, der dafür prädestiniert ist, Brücken zu bauen.

Und so spinnt sie zur Verbesserung der Gegenwart eine kleine Utopie: „Wir haben in Bremen mit Paula Modersohn die erste Frau, der ein Museum gewidmet wurde. Es stände einer liberalen Stadt wie Bremen an, eine Schafferinnen-Mahlzeit für Frauen zu installieren mit einem Paula Modersohn-Preis, der die Stadt über die Landesgrenzen bekannt machen würde – als ergänzende Marke zu den Bremer Stadtmusikanten. Und einmal im Jahr würde in Richtung Marktplatz ein roter Teppich ausgelegt für besondere Frauen aus der ganzen Welt. Das würde dem Charakter dieser Stadt entsprechen.“ 

Weil sie so aufgewachsen ist wie sie aufgewachsen ist, empfindet sie sich als Mensch, der dafür prädestiniert ist, Brücken zu bauen. „Ich suche immer nach dem gemeinsamen Nenner und nicht nach dem, was die Menschen trennt.“ Und weil sie so aufgewachsen ist wie sie aufgewachsen ist, findet sie es erstaunlich, dass ihr auf ihrem Weg durch die Welt viele Menschen begegnet sind, die in sich nicht das Bedürfnis und die Verpflichtung empfanden, sich zu engagieren: „In Bremen wird einem fast ein schlechtes Gewissen gemacht, wenn man nicht sozial aktiv ist.“ 

Made auf Veddel

Integration, Freiheit und Demokratie sind nicht nur Stichworte, die ihr Aufwachsen in Bremen begleitet haben, sie ist ihnen auch in ihrer Arbeit verpflichtet. Es reicht ihr nicht, Mode- und Kunstprodukte zu kreieren. Und so hat sie 2008 das Projekt „Made auf Veddel“ gestartet. Ich bitte sie, über „Made auf Veddel“ zu erzählen. Das tut sie gerne: 

„Auf der Veddel in Hamburg führen Frauen mit Migrationshintergrund in Selbstverwaltung ein Atelier und stellen hochwertiges Handwerk her, beispielsweise gestrickte Abendkleider und Schals, die in exklusiven Geschäften über die Landesgrenzen hinweg verkauft werden. Auch ihre umstrickten Weihnachtskugeln (die auch in der Kunsthalle zur Weihnachtszeit verkauft werden) sind inzwischen ein absolutes Sammlerobjekt geworden.“ Wichtig ist für sie, dass die Frauen erkennbar sind. Schließlich produzieren sie in liebevoller Handarbeit ein absolut individuelles Produkt. Und so steht in jedem Schal, in jedem Kleid, jeder gehäkelten Tasche der Name der Frau, die es hergestellt hat. Das Projekt, das auf schöne Weise das Unternehmerische mit dem Sozialen verbindet, ist auf Langfristigkeit und Nachhaltigkeit ausgerichtet. Die Gewinne der gemeinnützigen GmbH werden in die Ausbildung weiterer Frauen investiert, in Sprachunterricht und Unterricht in Handarbeit. So sind bis heute über hundert Frauen erreicht worden. Diese hohe Zahl liegt auch am Projekt Weltschal aus dem Jahre 2015: ein Schal bestehend aus 207 gestrickten Flaggen, der am Hamburger Rathaus hing, in St. Petersburg war, in diesem Jahr nach New York geht und 2018 an der Bremer Kunsthalle inszeniert wurde – „die meisten von Ihnen werden ihn gesehen haben.“

Bremen ist und bleibt ihr zweites Zuhause

Wir sind gemeinsam in einen Rede- und Erzählfluss gekommen. Es ist ausgesprochen schön, jemanden zu hören, der ganz in dem aufgeht, was er tut. Es ist auch schön, jemanden zu hören, der mit seiner Heimat im Reinen ist. Und es ist besonders schön zu hören, wie dankbar Sibilla Pavenstedt nicht nur der Stadt, sondern vor allem ihren Eltern ist, dass sie so sein durfte wie sie ist: ihrer italienischen Mutter und ihrem Vater, der sie nach wie vor mit seinem kaufmännischen Knowhow unterstützt. Ihre Eltern leben in der Nähe des Rhododendronparks, sie ist oft bei ihnen. Bremen ist und bleibt ihr zweites Zuhause – auch weil sie gerade mit dem Gedanken spielt, das Projekt Made auf Veddel auch nach Bremen zu holen.

Und eigentlich wäre es jetzt an der Zeit, den Aufruf zu starten, der dieser Kolumne ihren Namen gibt, nämlich: Vergessen Sie es! Dieses Mal jedoch würde ich Sie gerne zu etwas anderem animieren. Bleiben Sie doch noch kurz online und gehen Sie auf madeaufveddel.de. Und tun Sie mir einen Gefallen: Vergessen Sie es nicht. Nur dieses eine Mal! Ich danke Ihnen.