Vierzig Stimmen und Seelen, die für mich singen, sind ein großes Geschenk.
Chordirektorin Alice Meregaglia verlässt in diesem Sommer schweren Herzens das Theater Bremen, Musiktheaterdramaturgin Brigitte Heusinger hat sie zu einem Abschiedsinterview getroffen.
Brigitte Heusinger: Alice, du warst acht Jahre hier am Theater Bremen, zuerst anderthalb Jahre als Korrepetitorin, und den Rest der Zeit als Chordirektorin. Wie bist du nach Bremen gekommen?
Alice Meregaglia: Das Theater Bremen fragte an der Operá du Rhin in Straßburg nach, ob es eine Empfehlung für eine:n französische:n Korrepetitor:in gäbe. Straßburg hatte eine Empfehlung, mich, eine Italienerin. Dieses Spiel wiederholte sich zweimal: „Nein, keine Französin, sondern eine Italienerin“. Schlussendlich wurde ich dann doch eingeladen und erfuhr eine Woche vor meiner Reise in den Norden, dass die Stelle eine Chorassistenz beinhalten würde. Ich wusste nicht genau, was das bedeutet, aber dachte mir, eine Anforderung mehr, das kann nicht schaden. Und so erlebte ich beim Vordirigat mit einer Passage aus Benjamin Brittens Peter Grimes die ersten dreißig Minuten Chorerfahrung meines Lebens. Da ich kaum ein Wort Deutsch konnte, habe ich mich mit meinem ganzen Körper verständigt und den Chor zum Lachen gebracht. Der Vorhang war offen und diese merkwürdige Art der Kommunikation konnte fließen.
Und nach anderthalb Jahren warst du dann Chordirektorin.
Alice Meregaglia: Das ging unerwartet schnell. Ich bekam mitten in einer Probe von Gaetano Donizettis Maria Stuarda die Gelegenheit, mit dem Chor arbeiten zu dürfen. Welch ein Geschenk, Belcanto ist ein Repertoire, das ich gut kenne und liebe und das in meiner Sprache geschrieben ist. Auf einmal konnte ich musizieren, wie ich wollte, mit meinem Chor, …
…, der damals noch nicht dein Chor war.
Alice Meregaglia: Das ist mein Chor und wird auch immer mein Chor bleiben. Oft denke ich an einen Satz von Woody Allen über die Liebe: „basta che funzioni“, es soll einfach funktionieren. Und manchmal funktionieren Beziehungen und manchmal nicht. Es ist selten, dass die erste Liebe funktioniert, aber mit meinem Chor ist es so.
Dass du eine Frau bist in einem männerdominierten Beruf, war nie Thema, oder?
Alice Meregaglia: Natürlich war ich jung und eben eine Frau, aber gerade zu Beginn hatte ich einen merkwürdigen Schutz, meine Schwierigkeit mit der Sprache.
Warum?
Alice Meregaglia: Wenn wir uns nicht ausdrücken können, sind wir entweder im Gefängnis oder geschützt. Man übersieht dann manchen leisen Widerstand. Die Arbeit war zu Beginn nicht immer einfach. Manchmal bin ich nach Hause gegangen und hatte schwierige Gefühle, die ich verdauen musste. Oft sagen wir: Wir müssen darüber sprechen. Aber es gibt Fragen, die kann man nur für sich selber beantworten. Man muss die eigene Verantwortung sehen, Energie sparen, einfach spüren. Und: Wenn sich meine Position ändert, ändert sich auch die Gegenposition. Durch meinen Chor bin ich zu einem besseren Menschen geworden.
Der Chor hat sich verjüngt, was sind die wichtigsten Eigenschaften, die ein:e Sänger:in mitbringen muss, um in den Chor aufgenommen zu werden?
Alice Meregaglia: Bei einem Vorsingen kann man Menschen nicht richtig kennenlernen. Ich mag, wenn Stimmen brillant, rund, flexibel und kontrolliert sind. Dann bin ich überzeugt. Und hinterher ist es meist so, dass die menschliche Seite dann auch flexibel, brillant, kontrolliert und rund ist.
Was ist in deiner Arbeit mit dem Chor entscheidend?
Alice Meregaglia: Ein Wort, was ich wichtig, aber gleichzeitig gefährlich finde, ist Homogenität. Manchmal ist ein Chorklang ausgewogen, homogen, weil er sehr kontrolliert ist. Dann besteht die Gefahr, dass ohne Körper, ohne Charakter gesungen und nur einem technischen Ideal gefolgt wird. Jede Stimme soll authentisch sein, ohne sich selbst stark zu begrenzen. Ich denke auch, dass es in einem Chor viele Rollen gibt und alle gleichermaßen wichtig sind. Es gibt die exponierten Stimmen, die tragenden Stimmen, die schüchtern ergänzenden Stimmen, die Stimmen, die die anderen verbinden. Und es ist dann meine Aufgabe, zwischen allen diesen Stimmen eine Balance zu schaffen, ohne dass die einzelne Stimme ihren Charakter verstecken muss und ohne, dass sich jemand zurückgesetzt fühlt. Meine Arbeit ist wie die eines Bildhauers, der ein Werk gestaltet. Ich versuche aus ganz individuellen Zutaten, aus Diversität Harmonie zu formen. Aber alles ist auch eine Frage der Sensibilität. Wenn wir mit Aufmerksamkeit ein gemeinsames Ziel verfolgen, bewusst und offen miteinander bleiben, dann kommt Homogenität ganz natürlich zustande. Ich wünsche mir den Mut, Fehler zu machen, einfach etwas auszuprobieren. Ein falscher Einsatz ist kein Problem. Aber was ich nicht verstehe, ist, wenn nicht hingehört, wenn nicht zugehört wird. Wenn ich eine Motivation für eine Passage gebe, beispielsweise für ein Gebet und wenn dann laut, ohne Innigkeit, gesungen wird. Das ist so als würden wir auf Autopilot fahren und Töne ohne Bewusstsein produzieren. Eine Oper zu interpretieren, ist ein Privileg, das wir nicht verraten dürfen. Ich bin extrem streng, insistiere viel, um eine präzise Klangvorstellung und einen bestimmten musikalischen Charakter zu erreichen. Ich habe große Geduld beim Proben, denn vierzig Stimmen und Seelen, die für mich singen, sind ein großes Geschenk.
Chordirektor:innen arbeiten immer eng mit Dirigent:innen zusammen.
Alice Meregaglia: Ja, ich hatte immer eine gute Kommunikation mit allen. Aber besonders eng war sie bei Menschen, die den Vornamen Markus tragen. Besonders glücklich habe ich mit Markus Poschner, Marco Comin und Marko Letonja gearbeitet.
Veröffentlicht am 21. Juni 2023