Vom Flattern und Fliegen

Ausgehend vom choreographischen Score von REVUE schreibt die Dramaturgin Theresa Schlesinger einen Versuch über das Tier-Werden.

Am Anfang ist es ein Gehen: Ein Schritt vor den anderen im immer gleichen Rhythmus. Vorwärts, hintereinander weg. Die Beine tragen die Körper, die Arme hängen lose daran herunter. Dann und wann bildet sich eine Gruppe, eine Herde vielleicht, mehrere Körper gehen dichter hintereinander, um sich dann wieder voneinander zu lösen. Unmerklich verändert sich etwas. Noch immer sind es menschliche Körper, die sich vorwärtsbewegen, doch schleichend wird der Gang dynamischer, leichter. Etwas verschwimmt, etwas verändert sich. Die Füße heben sich leicht vom Boden ab. Sie versetzen die Körper in eine Art vorsichtige Hüpfbewegung. Es geht weiter, immer noch im gleichen Rhythmus, immer noch Schritt für Schritt, doch alles wird etwas leichter, der Boden trägt und federt. Wie fühlt es sich an, abzuheben? Jemand beginnt schnell zu sprinten, fügt sich aber direkt wieder ein in den Grundrhythmus. Irgendwann bewegt sich eine Hand. Ein Unterarm setzt sich in Bewegung.

Ein Winken? Ein Flattern!

Immer mehr Arme übernehmen das Leichte vor und zurück, während die Beine immer noch verlässlich vorwärts tragen. Zwei hintereinander bilden ein Paar, sind aber schon nach wenigen Momenten wieder einzeln unterwegs. Was heißt es, sich über eine gemeinsame Bewegung zu verbinden? Die Armbewegung, die gerade noch klein und schnell war, hat sich verändert. Als wäre das Flattern einmal durch alle Körper hindurch gewandert, um sich weiter auszubilden, ist es nun ein Gleiten, ein Fliegen vielleicht. Auch die Beine heben immer weiter ab vom Boden. Fast schon verbinden sich die einzelnen Körper über diese gemeinsame Flugbewegung, wie ein Organismus trägt es sie voran. Doch etwas hält sie noch am Boden.

Wie fühlt es sich an, wenn der eigene Arm plötzlich zum Flügel wird?

Ausgestreckt bewegt er sich nach oben und unten, verdrängt die Luft und versetzt den ganzen Körper in eine neuartige Bewegung. Was verbindet unsere Gliedmaße mit denen des um 1400 ausgestorbenen Haastadlers? Wie würde er seine Flügel ausbreiten, abheben und über den blauen Pazifik um Neuseeland hinübergleiten? Beim Weitergehen fällt auf einmal auf, dass ein Ärmel auch flattern kann. Er wird länger, wächst über die Hand hinaus und beginnt sich beim Gehen im selben Rhythmus mitzubewegen. Auch Hände in Hosentaschen können flattern, ein Pullover wird, wenn er über die Schultern hängt, zu Flügeln oder zusammengerollt auf dem Rücken zu einer Art Panzer.

Was vermag ein Körper?

Bei dem Philosophen-Duo Guattari und Deleuze kann man über das Tier-Werden lesen: „Ein Körper wird weder durch die ihn determinierende Form bestimmt, noch als determinierte Substanz oder Subjekt, noch durch die Organe, die er hat, oder die Funktionen die er erfüllt. Ein Körper ist nichts als Affekte und räumliche Bewegungen, unterschiedliche Geschwindigkeiten“ (siehe: Félix Guattari und Gilles Deleuze: Tausend Plateaus). Hier sind wir also: Gemeinsam in einem sich stetig wandelnden Raum, noch eine kurze Zeit haben wir gemeinsam, bevor es zu Ende geht. Es gibt einiges zu entdecken, noch mehr zu erfahren. Was wird passieren? Das anfängliche Gehen setzt sich weiter fort, unermüdlich und verlässlich. Ein fließender, gehender Strom, der immer wieder kurz ausreißt und uns aufzeigt, wie sich Elemente umdeuten, umfunktionieren lassen und gleichzeitig nie anhält oder sich festlegt auf eine bestimmte Darstellung oder gar Imitation. Nein, es geht um weit mehr:

 

“Oh my love. Look and see the Sun rising from the river. Nature's miracle once more

will light the world.” (Riz Ortolani)

 

 

Veröffentlichung: 12.5.22