Warum eigentlich ... kein Wahlrecht?
Wendla Schaper, EU-Jugendvertreterin für den EU-Jugenddialog in Deutschland, ein Projekt vom Deutschen Bundesjugendring, im Gespräch mit Dramaturg Stefan Bläske über Demokratie, Zukunft und die Frage, warum ein Viertel der Menschen in Deutschland nicht wählen dürfen.
Stefan Bläske: Es ist Wahljahr, aber von 83,2 Millionen Einwohner*innen in Deutschland dürfen nur 60,4 Millionen wählen. Etwa 10 Millionen werden ausgeschlossen, weil sie keine deutsche Staatsbürgerschaft haben. Und circa 13 Millionen, weil sie unter 18 Jahre alt sind – also gerade die, die von politischen Entscheidungen am längsten betroffen sein werden. Nicht gerade fair, oder?
Wendla Schaper: Genauso sehe ich das. Wir sind die Generation, die noch am längsten auf dieser Erde leben wird, das Recht auf Mitbestimmung durch die Wahl ist Kindern und Jugendlichen aber verwehrt. Ich glaube, dass bei vielen jungen Menschen eigentlich ein großes Interesse besteht, bei politischen Entscheidungen mitzubestimmen. Viele sind auf jeden Fall sehr politisch, sind aber auch enttäuscht von der Politik. Das Interesse, in Parteien einzutreten oder ehrenamtlich in der Jugendpolitik aktiv zu werden, nimmt deshalb ab. Viele möchten sich lieber durch Protest mitteilen, weil anders kaum Fortschritt in Sicht ist.
Das Senken des Wahlalters könnte helfen?
Wendla Schaper: Ich denke, eine Wahlalterabsenkung könnte daran etwas ändern, da junge Menschen als gleichberechtigte Menschen in der Demokratie anerkannt werden. Bisher besteht der Eindruck, Politiker*innen können auf uns hören, sie können es aber auch lassen. Wahlprogramme müssen nicht auf unsere Forderungen zugeschnitten sein, denn wir können eh nicht wählen. Durch eine Absenkung des Wahlalters würden auch Menschen unter 18 zu potenziellen Wähler*innen, um die die Parteien werben. Ich denke, dass dadurch viel mehr Themen in der Politik bewegt würden, die junge Menschen und unsere Zukunft betreffen.
Wählen ab 18 geht in Deutschland seit 1972. Vorher lag das Wahlalter bei 21. Nun gibt es Forderungen nach einem Wahlrecht ab 16 Jahre, ab 14 Jahre oder ab Geburt. Was denkst du persönlich und warum?
Wendla Schaper: Ich finde die Forderung nach einem Wahlrecht ab Geburt neben allen Altersstufen, die als potenzielles herabgesetztes Wahlalter diskutiert werden, am wenigsten willkürlich. Wählen ist für Bürger*innen in einer funktionierenden Demokratie ein Grundrecht. Kindern und Jugendlichen unter 18 wird dieses Grundrecht bisher aberkannt. Dennoch sind wir von Geburt an Bürger*innen dieses Landes und dieser Erde, denen es zustehen sollte, von Beginn an ein gleichberechtigtes Mitglied dieser Demokratie zu sein. Die Wahlabsenkungen auf 16 und dann auf 14 halte ich für Übergangsschritte.
Die Initiative „Wahlrecht ab Geburt – Nur wer wählt zählt!“, unter anderem mit der ehemaligen Familienministerin Renate Schmidt, fordert, dass das Wahlrecht so lange treuhänderisch von den Eltern ausgeübt wird, bis das Kind die Wahlmündigkeit erreicht. Wie siehst du das?
Wendla Schaper: Das sehe ich kritisch. Auch wenn ich Eltern nicht per se misstraue, dass sie nicht nur im Sinne ihrer Kinder wählen würden, würden bei einem solchen Verfahren Wahlgrundsätze wie Geheimhaltung, Freiheit, Unmittelbarkeit und Gleichheit verletzt. Ich denke bei einem Wahlrecht ab der Geburt auch nicht daran, dass Säuglinge oder Kleinkinder zur Wahlurne gehen, sondern daran, dass eigenständig entschieden werden kann, ab wann man bereit zur Wahl ist. Dann kann man sich zum Beispiel in ein Wahlregister eintragen und damit zur Wahl anmelden. Das würde Kinder nicht zur Wahl drängen, aber allen Menschen theoretisch von Geburt an die Möglichkeit geben, ihr Recht auszuüben. Wenn man Hilfe oder Beratung benötigt, sollen unabhängige Wahlhelfer*innen zur Verfügung stehen.
Unsere Demokratie ist zwar weiter als die im antiken Griechenland, wo nur Männer, „freie Bürger“, abstimmen durften, aber noch immer recht eng gefasst. Warum überhaupt Repräsentation und Wahlen? Es gibt unter anderem die Forderung (zum Beispiel von David van Reybrouck in Against Elections. The Case for Democracy) nach einer direkten Demokratie und einem Losverfahren, damit nicht immer nur die gleichen ressourcenstarken Akademiker*innen mit Berufspolitikkarrieren entscheiden, sondern die Bevölkerung in ihrer Breite, begleitet und beraten von Expert*innen und Räten. Was hältst du davon?
Wendla Schaper: Da halte ich viel von. Zumindest ein gelostes Bürger*innenparlament, das dem Parlament gegenüber eine beratende Funktion einnimmt, halte ich für vielversprechend und umsetzbar. So etwas gibt es in Irland, dort wurden viele positive Erfahrungen damit gesammelt. Zum Beispiel wurde die Ehe für Homosexuelle und das Abtreibungsverbot von dem Bürger*innenparlament angeregt und dann vom gewählten Parlament beschlossen. Geloste Parlamente würden jedoch eine umfassende und vor allem neutrale Beratung aller Mitglieder erfordern. Das richtige Parlament zu losen, wäre eine riesige Reform. Parteien würden wegfallen und die Mitglieder wären als Individuen da und nicht als Abgeordnete für ein mit Mehrheit gewähltes Programm. Ich frage mich, ob diese Veränderung wirklich dazu führen würde, dass sich mehr Menschen mit politischen Entscheidungsträger*innen identifizieren.
Ist Identifikation denn wichtig?
Wendla Schaper: Ich bin der Überzeugung, dass Identifikation mit Politiker*innen entscheidend ist, weil sich viele Menschen eher von jenen repräsentiert fühlen, die der eigenen Lebensrealität nahe sind.
Was könnte sich ändern, wenn weniger Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen wären?
Wendla Schaper: Wahlrecht für Menschen unter 18 und Wahlrecht für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft könnte in meinen Augen ändern, dass wir eine vielfältigere und repräsentativere Parlamentszusammensetzung erreichen. Nicht durch Quoten oder ähnliche Mittel, sondern durch Wahlen.
Zum Abschluss und Ausblick: Warum Demokratie nicht auch radikal über die aktuell lebenden Menschen hinaus denken? Es gibt Forderungen, auch Tieren, Weltmeeren, Gletschern, Dingen und zukünftigen Generationen eine Stimme und Repräsentation zu geben (vgl. zum Beispiel Bruno Latour)?
Wendla Schaper: Der Ansatz ist als Idee interessant, aber auch hier ist die entscheidende Frage die Umsetzung. Denn ein „Parlament der Dinge“ würde ja Unbelebtes und vom Menschen Bewohntes und Beherrschtes in ein menschengemachtes System miteinbeziehen. Nur wie? Würden Berge, Flüsse, Meere und Gletscher dann wieder von Menschen vertreten werden, macht die Theorie für mich keinen Sinn. Dann würden wir Unbelebtes sozialisieren und der Mensch würde sich für universal und allumfassend genug halten, um Materielles und Zukünftiges in menschliche Politik und menschliche Systeme mit einzubeziehen. Vielleicht darf Materielles auch einfach unpolitisch sein. Ethisch und moralisch finde ich den Ansatz Bruno Latours aber richtig. Denn der Mensch sollte in der Politik und seinem Handeln natürlich darüber nachdenken, wie er auf Erden mit der Natur umgeht, wie er die Natur und Rohstoffe (aus-)nutzt und wie das zukünftige Generationen beeinflussen wird.
Was macht eine EU Jugendvertreterin? Mehr dazu hier.
Wendla Schaper wird am 4. Juli Gast bei dem zweiten Teil der Podiumsdiskussionen „Wem gehört die Demokratie?“ sein.