Warum eigentlich ... Obdachlosigkeit in Bremen
Senatorin für Soziales Anja Stahmann und Streetworker Jonas Pot d’Or vom Verein für Innere Mission Bremen im Gespräch mit Schauspieldramaturg Stefan Bläske über Obdachlosigkeit im Corona-Winter
Der Schnee war vielen eine willkommene Abwechslung zwischen Homeoffice oder Homeschooling. Aber was machen Menschen im Corona-Winter, die kein Zuhause haben?
Anja Stahmann: Die Situation für wohnungslose Menschen ist immer schwierig und sie ist nun noch schwieriger geworden. Wir bieten Übernachtungsplätze in Notunterkünften und Pensionen an. Die Notunterkünfte sind immer auch tagsüber geöffnet. Dennoch ist das kein Ersatz für die eigene Wohnung. Dazu kommt, dass viele andere Möglichkeiten derzeit eingeschränkt sind. Unsere Treffs sind zwar geöffnet, aber müssen natürlich die Hygienevorschriften einhalten. Das führt zu Begrenzungen.
Jonas Pot d’Or: Das Überleben auf der Straße ist ein riesiger Kraftakt und fordert obdachlosen Menschen sehr viel ab. Eis, Schnee, Feuchtigkeit und Kälte machen es noch gefährlicher. Menschen, die nicht den Weg in Unterstützungsangebote finden, haben es derzeit besonders schwer, für sie sind fast alle Möglichkeiten weggebrochen, sich zwischendurch aufzuwärmen und vor der Witterung zu schützen. Einkaufspassagen und Geschäfte sind geschlossen, es fehlen Sitzgelegenheiten und Orte zum Ausruhen und Aufwärmen. Viele von ihnen sind deshalb deutlich mehr unterwegs auf der Suche nach geschützten Räumen, sie kommen kaum zur Ruhe.
In Berlin mussten Obdachlose, die in eine Unterkunft wollten, einen Corona-Schnelltest machen. Jeden Abend Schlange stehen und Stäbchen in die Nase. Wie ist das in Bremen?
Anja Stahmann: In Bremen werden die Übernachtungsplätze über die Zentrale Fachstelle Wohnen zugeteilt. Niemand muss abends irgendwo anstehen, um einen Schlafplatz zu bekommen. Glücklicherweise hatten wir bisher in den Unterkünften keine Erkrankungen oder bestätigte Verdachtsfälle. Die Belegung ist so gestaltet, dass die notwendigen Abstände eingehalten werden können. Eine tägliche Testung findet nicht statt.
Wie ist die Situation in Bremen grundsätzlich, wie viele Obdach- und Wohnungslose gibt es? Wo schlafen sie und warum weiß man in vielen Städten so ungenau Bescheid über Anzahl und Situation von Obdachlosen?
Anja Stahmann: Oft ist Wohnungslosigkeit gar nicht sichtbar, weil es den Betroffenen gelingt, bei Bekannten oder Freunden unterzukommen. Wir wissen darüber hinaus natürlich, wie viele Menschen über die Fachstelle Wohnen untergebracht werden. Wir haben mehrere Notunterkünfte, die von Trägern organisiert werden. Und wir nutzen Pensionen, die über einen Vertrag Zimmer für wohnungslose Menschen zur Verfügung stellen. Unklarheit besteht über die Anzahl an Menschen, die im Freien schlafen oder nur sehr prekäre Übernachtungsmöglichkeiten haben. Es gibt in Bremen ein sehr umfangreiches Unterstützungsnetz und sehr viel ehrenamtliches Engagement. Es gibt auch viele unterschiedliche Ansätze und Unterstützungswege, um Wohnungen zu akquirieren. Dennoch ist die Situation für viele wohnungslose Menschen aufgrund sehr vielfältiger Problemlagen sehr prekär.
Gesetzlich steht in Deutschland jedem und jeder Obdachlosen eine Unterkunft in der Nacht zu. Warum aber müssen sie morgens wieder raus und wie ist das in Bremen?
Anja Stahmann: In Bremen sind alle Unterkünfte auch tagsüber geöffnet. Die Betroffenen haben ein Zimmer, das ihnen im Regelfall für vier Wochen zugewiesen wird und das sie ggf. mit einer weiteren Person teilen müssen. Die Zuweisung wird – bei Bedarf – immer um weitere vier Wochen verlängert. Ziel ist es selbstverständlich, eine Wohnung zu finden oder andere notwendige Hilfen zu organisieren.
Wenn man die Situation für bedürftige Menschen besser und sozialer regelt als andere Regionen, lockt man damit weitere Menschen an, zum Beispiel aus Osteuropa?
Anja Stahmann: Das ist schwer zu sagen und die Erfahrungen sind unterschiedlich. Im Allgemeinen ist es so, dass die Menschen, die aus Osteuropa nach Bremen kommen, Arbeitsmöglichkeiten haben oder suchen. Die Beschäftigungsverhältnisse sind aber oft sehr prekär. Noch schwieriger wird es dann, wenn weitere Probleme dazukommen, also zum Beispiel das Arbeitsverhältnis endet, Suchtprobleme vorhanden sind oder Menschen schwer erkranken. Grundsätzlich gibt es dann zwar Überbrückungshilfen, aber keine langfristige soziale Absicherung, denn die Europäische Union garantiert nur die Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Was gibt es neben der Unterbringung für Maßnahmen und Unterstützungen? Spenden, Suppen-Engel, Dusch-Busse usw., was hilft?
Jonas Pot d’Or: Es hilft unheimlich, in den direkten Kontakt mit den Menschen zu gehen. Wir suchen die Menschen an ihren Aufenthaltsorten auf und versorgen sie mit den derzeit für sie wichtigsten Dingen: Thermounterwäsche, warme Socken und Schuhe, große Winterjacken zum über die Kleidung ziehen, Isomatten und Schlafsäcke, warme Hosen und Fleecejacken. Dazu kommen heiße Getränke, auch in Thermoskannen, um über den Tag verteilt etwas zum Durchwärmen zu haben, heiße Suppenterrinen, Masken in ausreichender Anzahl und auch zum Wechseln. Zum Monatsende, wenn bei vielen das Geld noch knapper ist, gibt es Unterstützungsaktionen mit Gutscheinen für warmes Essen oder Lebensmittelpakete mit haltbaren Produkten, die auch in den nachfolgenden Tagen die Grundversorgung sicherstellen. Manchmal sind es auch ganz individuelle Dinge: ein kleiner Campinggaskocher zum Wasser wärmen, ein Fahrradschloss, um das Fahrrad, welches manchmal der wertvollste Besitz ist, auch mal einen Augenblick unbeaufsichtigt stehen lassen zu können, um sich zu erleichtern, all diese kleinen und oft von außen nicht erkennbaren Dinge helfen. Und nicht zuletzt: der persönliche Kontakt und die menschliche Begegnung schaffen gegenseitiges Vertrauen zueinander.
Anja Stahmann: Neben viel ehrenamtlichem Engagement gibt es die Angebote, die durch die Stadt gefördert werden. Das sind Aufenthaltsorte, wie das Café Papagei. Es gibt aber auch viele Maßnahmen, die die Wohnungssuche unterstützen. Das muss ja das Ziel sein. Wir kooperieren mit Wohnungsbaugesellschaften und privaten Vermietern. In diesem Bereich soll in diesem Jahr auch noch nachgelegt werden. Die Auswahl für einen Träger zur Umsetzung des Housing-First Projekts läuft gerade. Und über zusätzlich zur Verfügung gestellte Finanzmittel können wir ca. 150 Belegrechte für Wohnungen ankaufen. Auch da sind wir in der Umsetzung.
Was kann man tun als Bürger*in, der/die sich engagieren will?
Anja Stahmann: Als erstes einmal: Haben Sie keine Scheu, sprechen Sie die Menschen auf der Straße ruhig an. Fragen Sie, welche Unterstützung sie gerade brauchen, und überlegen Sie, ob Sie helfen können. Wer Zeit übrig hat, kann sich ehrenamtlich einbringen, wer eher Geld übrig hat, ist mit einer Spende immer willkommen. Wenn Sie wissen wollen, was konkret gebraucht wird, wenden Sie sich an die Innere Mission, an die Diakonie, an Ihre Kirchengemeinde, die Bremer Tafel oder an die Suppenengel. Die ehrenamtliche Arbeit reicht von der Versorgung mit einer warmen Mahlzeit oder Schlafsäcken bis zu niedrigschwelliger Gesundheitsvorsorge auf Basis ehrenamtlicher Arbeit.
In einer idealen Welt: Gäbe es da Obdachlose, und wenn ja, wie würde die Gesellschaft mit ihnen umgehen?
Anja Stahmann: Ich glaube, es wird immer wohnungslose Menschen geben, zumindest vorübergehend. Die Problemlagen sind im Einzelfall schon sehr komplex. Und unser Sozialsystem ist sehr gut, aber ebenfalls sehr komplex. Es ist nicht immer leicht, an die richtigen Hilfen zu kommen und die Hürden dafür zu überwinden – auch, wenn sich alle Beteiligten dabei Mühe geben. Ich würde mir wünschen, dass es etwas mehr Freiräume und wirkliche Akzeptanz gibt. Das bedeutet aber auch für die Betroffenen, die Grenzen ihrer Freiheit zu erkennen, was leider nicht allen gelingt.
Jonas Pot d’Or: In einer idealen Welt müsste allen Menschen eine würdige Lebensperspektive gesellschaftlich garantiert werden. Es bräuchte ein gesichertes Einkommen, das Teilhabe ermöglicht und die individuellen Wünsche für die Lebensgestaltung berücksichtigt. Für die einen ist es eine eigene Wohnung, für die anderen sind es alternative Wohn- und Lebensformen wie zum Beispiel eine Parzelle, ein Bauwagen oder ähnliches. Es braucht Toleranzräume, damit jede*r seinen und ihren persönlichen Lebenssinn verfolgen kann. Neben einer Grundversorgung durch ein entsprechend gesichertes Einkommen gehört hierzu auch die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe, also der Zugang zu Kunst, Kultur, Bildung und Gemeinschaft. In einer idealen Welt leben diejenigen, über die wir gerade sprechen nicht am Rande, sondern in der Mitte der Gesellschaft.