Warum eigentlich ... Über Bäume sprechen?
Dramaturg und Ronja-Räubertochter-Fan Stefan Bläske mit einer „Brandrede“ über den alten Freund aus Kindertagen
Es ist einer von Bertolt Brechts bekanntesten Sätzen, verfasst in den finsteren 1930er Jahren: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ Nun, in den 2020ern, müssen wir Nachgeborene uns fragen (lassen), ob wir überhaupt noch über Bäume sprechen können, ohne über Untaten zu sprechen. Und über Untätigkeit ... Am Theater Bremen tun wir das u.a. in der Gesprächsreihe mit der Heinrich Böll-Stiftung (OIKOS#2: Der Wald am 16.11.21). Außerdem dient der Wald diese Spielzeit als Bühnenbild in gleich zwei Inszenierungen: Erbarmen und Ronja Räubertochter.
Ronja schreit vor Glück, wenn sie im Frühling endlich wieder in den Wald darf.
Während Ronja durchs frische Grün hüpft, schallt ihr Frühlingschrei von den Bergen wieder. Dabei ist unser Bild vom Wald schon lange nicht mehr derart saftig und unschuldig. Stattdessen summen wir seit 1968 mit Alexandra melancholisch Mein Freund der Baum ist tot (bitte während der folgenden Lektüre hier hören) und sehen sie sterben, die Bäume, mal still und leise, mal lodernd und „explodierend“ (Trump), und manchmal unter lautem Protest wie angesichts von Stuttgart21, Kohlebaggern und Großbaustellen.
Wir sehen den Wald vor lauter Wirtschaft nicht mehr.
Wenn wir als Theater nun den Räuberwald von Ronja auf die Bühne bringen, kann man sich natürlich fragen, was das soll: Natur nachbauen für die Kunst? Bunte Farben, Styropor und Pressspan … Töten wir gar echte Bäume, um künstliche auf der Bühne zu zeigen? Man muss wohl mit den Rumpelwichten fragen: Wiesu tun sie su? (Bitte gerne Mein Freund der Baum wieder ausschalten.) Ronja Räubertochter ist ein Buch übers Erwachsenwerden und über zwei junge Menschen, die die Feindschaft ihrer Eltern überwinden. Und es ist eine große Liebeserklärung an die Natur und an den Wald. Nicht unbedingt den deutschen, vielleicht den schwedischen (wo übrigens der älteste Baum der Welt steht, eine 9.550 Jahre alte Fichte im Nationalpark Fulufjället). Sagen wir: an den Wald an sich.
Aber was ist „der Wald“, was war oder wird er gewesen sein?
Bei Shakespeare und auch im romantischen Ballett, also eigentlich über Jahrhunderte hinweg, galt der Wald auf den Theaterbühnen als die Gegenwelt zur Zivilisation, zur geordneten Gesellschaft. Im Wald wartete das Unheimliche, Überirdische. Man mag sich natürlich wundern, warum das Über-Natürliche gerade in der Natur angesiedelt wurde (und Genaueres bei Forschern wie René Girard nachlesen). Jedenfalls warten im Wald – etwa im Sommernachtstraum – die Elfen, Zaubereien und Eseleien. Und der scheinbar unbesiegbare Macbeth wird erst dann fallen, so wird ihm prophezeit, wenn sich der Wald von Birnam auf seine Burg zubewegt.
Heute breiten sich die Wälder kaum mehr aus, im Gegenteil.
Weltweit gehen jedes Jahr zehn Millionen Hektar Wald verloren. Das sind 33 Fußballfelder – jede Minute! Die Landwirtschaft, die Monokulturen, die Abgase, die Hitze, die Borkenkäfer, sie alle tragen dazu bei. In Ländern wie Brasilien, Indonesien und dem Sudan werden Wälder, die Biotope des Lebens und der Artenvielfalt, radikal vernichtet. Wir starren geschockt auf Bolsonaro und andere Präsident:innen, denen die (Land)Wirtschaft wichtiger ist als das Weltklima. Sind aber selbst nicht ganz unschuldig, nicht heute und nicht früher. Europa war einmal von Wald bedeckt, aber dann brachte erstens Prometheus das Feuer, und zweitens begannen die Griechen und Römer, nicht nur zu heizen, sondern wie wild zu bauen: Hütten und Wallanlagen und Schiffsflotten. Die Zitronen blühen und die Orangen glühen noch, aber das dunkle Laub ist längst verschwunden im kargen Süden von Europa. Verrückte Welt, in der mehr Golfplätze bewässert werden als Aufforstungsprojekte.
Es lodert ringsum.
Dass es öfters brennt und brennen wir, ist angesichts steigender Temperaturen und des Klimawandel erwartbar. Warum aber können oder wollen wir, trotz aller Technologie und Fortschritt, nicht schneller löschen? In Australien, Kalifornien, Sizilien usw.? Man fragt sich, warum hier nicht im großen Stil aufgerüstet wird … Wenn schon alle von „grünen Investitionen“ sprechen und die Nato vorgibt, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in „Verteidigung“ zu stecken, also 60 Milliarden Euro allein von Deutschland, warum das Geld nicht sinnvoll ausgeben?
Warum nicht den Wald verteidigen statt die Landesgrenzen?
Ließen sich nicht Hubschrauber, Militär- und Privatflugzeuge, diese Umweltsünder, in großem Stil umrüsten zu Löschflugzeugen? Natürlich gibt es schon entsprechendes Gerät und die deutsche Bundesregierung bietet Hilfe an, wenn es in Sibirien oder Brasilien brennt. Häufig aber werden diese Angebote abgelehnt. Und ja, viele Feuer sind gewollt. Brandrodungen, damit auf den neu gewonnenen Flächen Soja angebaut werden kann oder Rinder gezüchtet, für unsere Steaks und Supermärkte. Wir sind mit verantwortlich, wenn wir kaufen und konsumieren. So sei das nun mal, werden Neoliberale einwenden und achselzuckend Werther zitieren:
„Der harmloseste Spaziergang kostet tausend armen Würmchen das Leben.“
Wer lebt, der stört und zerstört, darum müsse man sich doch nicht immerzu schuldig fühlen und den anderen den Spaß verderben. Aber das ist natürlich eine eher rücksichtslose Perspektive. Bei aller Kompliziertheit des Lebens und der globalen Wirtschaft: Wir müssen schon auch Verantwortung übernehmen, dürfen nicht einfach weiter ausbeuten, nur weil‘s bequem ist und die Eltern es so vorgemacht haben.
Und da sind wir zurück bei Ronja, der Räubertochter.
Die nämlich sagt, sie will das nicht mehr: das Räubern. Es müsse Schluss sein mit den Beutezügen, nennen wir es Ausbeutung. Für sie und Birk kommt das nicht mehr in die Tüte (schon gar nicht Plastik). Lieber riskiert sie den Bruch mit ihrer Familie und erträgt, dass ihr Vater sagt, er habe nun kein Kind mehr. Lieber lebt sie ein Jahr lang im Wald, friert und hungert, als zurückzukehren in die sichere Festung (nennen wir sie Europa oder Räuberburg) und mitzumachen bei den alten Kämpfen und Raubzügen (die heute freilich keine Kreuzzüge mehr sind, sondern Wirtschaftsdelegationen).
Ronja und Greta sind Schwestern aus Schweden. Und brauchen Unterstützung.
Was nun aber sollen wir als Theater tun? Wer lebt, der stört? Wer Theater macht, braucht Licht und Energie, und manche glauben auch, sie bräuchten aufwendige Bühnenbilder. Wer probt, verbringt viele Wochen in fensterlosen Räumen und Kunst scheint heute mehr mit Künstlichkeit zu tun zu haben als mit Natur. Alles ein bisschen absurd, zugegeben. Aber wenn man auf der Bühne dann von all dem erzählt, wenn das unterhält und sensibilisiert, wenn es zum Lachen und Weinen bringt und dazu noch zum Nachdenken, über den Wald, unseren Umgang mit der Natur und unsere Verantwortung über alle Generationen hinweg, dann wird sich das vielleicht irgendwann doch gelohnt haben?
Wenn sonst nichts hilft, könnte die Langfristperspektive trösten?
Irgendwann werden die Menschen doch wohl lernen und begreifen? Irgendwann wird die Energieerzeugung doch wohl grün geworden sein? Und wenn nicht, muss man eben noch weiter in die Zukunft denken. Irgendwann wird der Wald schon wieder zurückkehren. „Es ist schon über so viele Dinge Gras gewachsen, dass man keiner Wiese mehr trauen kann.“ Dieser Postkartenspruch leitet zwar in die Irre, weil unendlich vieles eben auch unwiederbringlich zerstört wird, ausstirbt, verloren ist. Aber vielleicht ist trotzdem tröstlich, dass sich irgendwann wieder Bäume durch den Beton arbeiten werden und dann irgendwann wieder Wald sein wird, auch am Bremer Goetheplatz. Aber das heißt ja nicht, dass Ronja ihren Frühlingsschrei nun hier nicht rufen sollte – im Gegenteil.
Veröffentlichung: 9.11.21