Was ist für dein System relevant? #6

Auf einen Spaziergang mit Emma Kramer und Marie Sievers, die beiden sind 20 Jahre alt und sie absolvieren ein Freiwilliges Kulturelles Jahr im Moks. Das Gespräch führte Valeska Fuchs, Regieassistentin im Jungen Theater.

Wie sieht eure derzeitige Situation aus?

Emma Kramer: Marie und ich leben gemeinsam in einer WG und unser Alltag ist, dass wir morgens immer zusammen frühstücken. Dann machen wir mittags meistens alle irgendwas für uns selbst und abends kochen wir als WG zusammen. Jeder hat sonst auch so eigene Baustellen. Ich kümmere mich um mein Projekt, man trifft Freunde. Meine Familie sehe ich derzeit nur über Facetime.

Marie Sievers: Wir sind eigentlich ziemlich gut aufgestellt, weil wir uns grad sehr privilegiert einfach so auf uns fokussieren können. Wir lernen kochen und Krams, mit dem man sich beschäftigt, wenn man älter wird, aber meistens keine Zeit hat sich damit zu beschäftigen. Unser FSJ steht derzeit auch eher still. Unsere Trägerschaft versucht gerade, vieles online stattfinden zu lassen. Wenn sonst irgendwie Fragen da sind, werden diese aber auch immer von unseren Ansprechpartner*innen beantwortet. Man wird da schon voll gut aufgefangen.

Womit beschäftigt ihr euch? Was macht ihr, damit es euch gut geht?

Marie Sievers: Komischerweise wirklich Zukunftsplanung. Obwohl es auch ein bisschen paradox klingen mag, weil man eigentlich so gar keinen Plan hat, was überhaupt so abgehen wird. Aber ich mache mir grad ziemlich viele Gedanken darüber und setze mich mit politischen Themen auseinander.

Emma Kramer: Ich versuche, die Möglichkeit zu nutzen, um kreativ zu sein. Ich habe angefangen zu malen und Gitarre zu lernen. Ich finde es gerade für mich wichtig, sich selbst nochmal wahrzunehmen, ins Innere zu gucken, zu reflektieren.

Was ist für euch jetzt besonders wichtig? Was nicht?

Marie Sievers: Ich habe während der Pandemie gecheckt, wie wichtig Lebensraum ist. Und dass es super wichtig ist, sich den auch so zu gestalten, dass es wirklich perfekt ist. Wenn ich mir vorstellen würde, dass ich jetzt nicht in dieser WG lebe würde, entweder zurück zu meinen Eltern hätte müssen oder in einer WG wäre, in der ich mich wirklich nicht wohl fühlte: wie grausam das ganz schnell werden kann. Was mir momentan gar nicht so wichtig ist, ist social media. Beziehungsweise versuche ich das gerade zu minimieren.

Tut ihr etwas, was ihr sonst niemals tun würdet? Oder getan habt?

Emma Kramer: Also ich gehe zum Beispiel super viel spazieren, wofür ich mir vorher niemals Zeit genommen hätte.

Hat diese Situation eure Sicht auf Dinge geändert? Beispielsweise eure Sicht auf Freundschaften, Gesellschaft, Familie, Hobbies?

Emma Kramer: Bei mir ist der Blick auf Gesundheit nochmal anders geworden. Und auch tatsächlich das Zu-mir-selbst-stehen, es ehrlich zu sagen, wenn mir etwas zu viel ist.

Marie Sievers: Ich finde, was man nochmal so krass gemerkt hat, sind einfach so Machtverhältnisse und wie heftig privilegiert man ist. Beispielsweise kann ich am Osterdeich mit Freund*innen sitzen und man wird dabei nicht als kriminalisiert gelesen und dann trifft man auf Menschen, die die Straßenzeitung verkaufen und die erzählen, dass sie vom Ordnungsamt gebüßt wurden und nun 50 Euro zahlen müssen. So merke ich, dass man als weiße europäische Frau noch so krass Glück hat, während dieser Pandemie. Besonders, wenn man dann noch den Blick nach Moria wendet, wo die Lebensumstände überhaupt nicht klar gehen. Auch dass Themen, wie der Anschlag von Hanau, der noch gar nicht wirklich lange her ist, überhaupt nicht mehr Thema in der Massengesellschaft ist, finde ich krass.

Emma Kramer: Im Blick darauf finde ich es verrückt, dass das jetzt mal ein Thema ist, was wirklich auch alle wahrnehmen und betrifft. Und ich find‘s krass zu sehen, wie schnell die Gesellschaft oder auch die Politik darauf reagiert oder auch reagieren kann.

Marie Sievers: Und noch einmal persönlich betrachtet, bemerke ich, dass wir uns in unserer Generation das erste Mal damit beschäftigen müssen, was Freiheit ist? Ich habe in meinen Leben noch nie erlebt, dass die Grenzen zu sind. Auch in meinem Freund*innenkreis wurde Freiheit nie hinterfragt. Ist Gesundheit wichtiger als Freiheit?

Glaubt ihr, dass wir als Gesellschaft etwas aus der jetzigen Krise lernen können?

Emma Kramer: Ich finde, die Krise bietet schon die Möglichkeit, auch andere Dinge, Probleme, „Krisen“ schneller in Angriff zu nehmen und auch Veränderung stattfinden zu lassen.

Marie Sievers: Ich habe tatsächlich ein bisschen Angst vor der Zukunft. Das beispielsweise rechte Kräfte einfach noch gestärkter daraus gehen werden.

Wünscht ihr euch etwas für die Zukunft aufgrund dieser Erfahrung?

Marie Sievers: Längere Umarmungen.

Emma Kramer: Ja! Einfach ein besseres Miteinander, ein Bewusstsein für dieses Miteinander und ein Wertschätzen von Menschen.

Wünscht ihr euch etwas von dem (Jungen) Theater? Jetzt oder in Zukunft?

Marie Sievers: Was ich interessant finden würde, wenn sich die Theater im Hinblick auf Partizipation größer aufstellen oder dies noch irgendwie weiter ausbauen würden. Also Kanäle finden, bei denen man irgendwie mit dem Theater interagieren kann.

Emma Kramer: Ich glaube, da werden gerade ganz viele spannende Konzepte entwickelt. Ich finde das auch voll schön, nochmal außerhalb dieser Box zu denken, zum Beispiel an ein Stück draußen oder eines, bei dem man rumläuft oder irgendwie sowas.

Marie Sievers: Generell muss ich auch wirklich sagen, dass ich ein bisschen Angst um Kultur so an sich habe. Wie wird Theater weiter stattfinden können? Theater lebt nämlich schon von zwischenmenschlichen Beziehungen. So habe ich eben Angst davor, dass Leute vereinsamen oder keine Kultur mehr machen können, weil sie nicht mehr genug Geld haben, um für sich selbst zu sorgen. Ich hoffe, dass das Solidaritätsnetz unter Kulturschaffenden nochmal aktiver und breiter wird.