Wenn die Kritik fehlt: Theater online
Christine Gorny ist Theaterkritikerin und Kulturjournalistin bei Bremen Zwei
„Schon interessant womit Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen.“
Gemeint waren Menschen wie ich, die ihren Lebensunterhalt unter anderem mit Theaterkritiken bestreiten. Meine Rezension über die Inszenierung von Tolstois Auferstehung am Theater Bremen für Radio Bremen hatte einer Hörerin missfallen. Und sie schickte eine entsprechende Mail. Das war vor einem Jahr. Kürzlich musste ich wieder an ihren süffisanten Satz denken. Er braucht wohl ein Update: „...womit Menschen nicht mehr ihren Lebensunterhalt verdienen“. Ohne Aufführungen und Ausstellungen keine Bewertungen und Besprechungen.
Was vor kurzem noch normaler Berufsalltag war, wirkt inzwischen wie ein unerreichbarer Traum.
Aufführungen live zu erleben, starke Inszenierungen dieser Spielzeit, wie Vögel, Die Dreigroschenoper, In Bed with Madonna. Am Premierenabend dicht gedrängt nebeneinander sitzen, mittendrin im Publikum, das schon im beschwingten Feierabendmodus ist, während für die Kritikerin die Arbeit gerade beginnt. Flüchtige Blicke der Sitznachbarn auf meinen Notizblock – was macht die da eigentlich? In der Pause anregende Begegnungen ganz ohne Sicherheitsabstand. Nach dem Schlussapplaus direkter Abgang nach Hause, schließlich beginnt die Frühsendung in ein paar Stunden. Besonders viele kurze Nächte gibt es beim Saisonauftakt im Herbst und auch im Frühjahr stehen an den Wochenenden oft mehrere Premieren an auf den Bühnen im Sendegebiet.
Nun bleiben die Vorhänge unten. Alles gecancelt, beziehungsweise verschoben auf ungewisse Zeit. Ich habe die Termine in meinem Kalender noch nicht gestrichen, als könnten sich die Ereignisse dadurch erzwingen lassen. Nützt vermutlich nichts.
In 35 Berufsjahren bei Radio Bremen habe ich nur einmal eine ähnliche Ausnahmesituation erlebt, nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl im Frühjahr 1986.
Ich erinnere meine Reportage vom menschenleeren Spielplatz im Bürgerpark und tägliche Berichte über Messwerte radioaktiver Belastung, die damals genauso akribisch verbreitet wurden, wie jetzt die Fall-Zahlen von Corona-Infizierten. Überhaupt bewegten die Menschen ähnliche Fragen: Darf ich vor die Tür gehen? Wie lange wird alles dauern? Bleiben wir gesund?
Das Radio galt damals als Hauptinformationsquelle, schnellstes Medium war es sowieso
Schließlich gab es kein Internet und im Fernsehen nur drei Programme. Doch auch jetzt schalten offenkundig viele statt Spotify eher ihr Radio ein, ganz linear und altmodisch. Genaue Zahlen liegen zwar noch nicht vor, aber uns erreicht mehr Feedback von Hörer*innen aus dem Homeoffice. Die haben als Tagesbegleitung anstelle ihrer Kolleg*innen nun Radiomoderator*innen live an der Seite. So wird soziale Distanz erträglicher und Updates zur Corona-Lage gibt es nebenbei auch. Offenbar besinnen sich viele Menschen in der Krise wieder auf die klassischen Medien. Verlässliche Informationen statt hysterischer Spekulationen. Und natürlich geht auch die Kulturberichterstattung weiter, trotz all der verschobenen Theater-, Film- und Buchpremieren. Mit allerlei Neuerscheinungen und in neuen Formaten. So hatte der RBB neulich sogar die Neuinszenierung von Carmen an der Berliner Staatsoper vor leeren Rängen als Livestream und im Hörfunk übertragen.
Leider scheitern solche Kooperationen noch zu oft an Rechtefragen. Was wiederum zeigt, wie ungewohnt und auch mühsam die Lage ist. Vor allem natürlich für die Kulturschaffenden selbst. Gerade bei ihnen spürt man jedoch den Willen, aus der gesellschaftlichen Vollbremsung irgendetwas Kreatives zu machen, Balkonkonzerte, YouTube-Clips oder Podcasts – das sind manchmal spannende Experimente.
Auch wenn einige Innovationen bleiben dürften, wünscht sich die Kulturjournalistin doch ein ordentliches Stück Arbeitsnormalität zurück.
Vor allem den direkten Kontakt zur Kunst. Ebenso wie den kritischen Austausch mit dem Publikum. Denn auch damit verdient eine Radio-Bremen-Theaterkritikerin ihren Lebensunterhalt.