AFTER TOMORROW #4: Wer mit am Tisch sitzen darf und wer nicht

Dr. Ferdaouss Adda, 360°-Referentin für Interkulturelle Öffnung am Theater Bremen, über „vererbte“ Ungleichheiten und hohe Hürden.

Sind wir in Bremen eigentlich alle gleich? Geht Ihre Tochter in ein paar Jahren studieren, die meiner geflüchteten Nachbarin aber nicht? Wer von beiden wird später mehr Geld verdienen? Wer wird sich eine Wohnung im Viertel leisten können? Wenn Sie jetzt sagen, alle hätten die gleichen Chancen, dann stimmt das leider nicht. Wir leben in einer segregierten Gesellschaft: Der städtische Großraum ist ökonomisch, sozial, kulturell und demografisch in Räume aufgespalten. Das Phänomen ist nicht neu, hat es doch immer verschiedene Formen segregierter geografischer Räume gegeben – mensch denke zum Beispiel an die Ständegesellschaft, in der die Aufteilung von Raum und Chancen dem Prinzip des festgelegten Geburtsrechtes von sozialem und Berufsstand folgte.

Räumliche Segregation ist immer auch Ausdruck von sozialer Ungleichheit und Diskriminierung.

In Stadtgebieten mit teurem Wohnraum und gut ausgebauter Infrastruktur leben in der Regel wenige, privilegierte Gruppen, Wohlhabende, während Stadtgebiete mit preiswerterem, oft reparaturbedürftigem Wohnraum und mangelnder Anbindung an öffentliche Infrastruktur den Lebensraum vieler sozial ausgegrenzter Gruppen darstellen. Unter den sozial Randständigen sind Einkommensschwache, Migrant*innen und BPoC (Black People of Color).

In einer repräsentativen Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2020 wird beispielsweise deutlich, dass jede*r dritte Befragte mit Migrationshintergrund in Deutschland rassistische Diskriminierung bei der Wohnungssuche erlebt.

Dieser Umstand führt nicht selten dazu, dass Migrant*innen Wohnraum vor allem in den Stadtvierteln finden, in denen bereits Migrant*innen leben. Ebenso bezeichnend, und diesmal auf die Stadt Bremen bezogen, ist die räumliche Konzentration von Kindern und Familien in Armut: Der Anteil der unter 15-jährigen, die auf Leistungsbezüge angewiesen sind, ist mit über 40% in Gröpelingen, Huchting und Blumenthal am höchsten. Der Anteil von Kindern, die in Armut leben, ist in Schwachhausen und Oberneuland mit unter 10% hingegen am niedrigsten (vgl. Arbeitnehmerkammer Bremen 2020).

Im Grunde genommen zeigt die Sozialstruktur von Räumen wie gesellschaftliche Ausgrenzungen und Machtungleichheiten produziert und reproduziert werden.

Die soziale Herkunft einer Person ist entscheidend für ihre Ausbildungs- und Lebenschancen. Wird eine Person in ein soziales Umfeld hineingeboren, das knappe ökonomische, soziale und Bildungs-Ressourcen hat, dann sind die Startbedingungen für sie schon ungünstig. Ungünstig nicht, weil es ihr an Klugheit fehlt, sondern weil sie einen fast unüberwindlichen Hürdenlauf meistern muss. Und das ohne Kapital der Eltern und sich nur auf die erworbene Bildung und den Eigenwillen stützend. Ein sozialer Aufstieg wird für diese Person mit einem sehr großen Kraftaufwand verbunden sein, denn die Steigerung ist im Verhältnis hoch, wenn mensch unten startet. Ein plakatives Beispiel dafür bieten Zahlen zur Herkunft von Studienanfänger*innen: Während 74 von 100 Akademiker*innen-Kindern ein Studium aufnehmen, sind es 21 bei 100 Nicht-Akademiker*innen-Kindern.

Von den 74 Akademiker*innen-Kindern erwerben immerhin 10 einen Doktortitel, von den 21 Nicht-Akademiker*innen-Kindern erwirbt aber nur 1 einen Doktorgrad.

Die Selektion im Bildungssystem fängt schon viel früher an und setzt sich über die gesamte schulische und außerschulische (berufliche und akademische Ausbildung) fort. Das Bildungssystem produziert somit Ausschlüsse, weil es ein bestimmtes Set an Wissen anerkennt und voraussetzt, das erlernt und oft vererbt wird. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu verwendete in diesem Zusammenhang die Bezeichnungen legitime Bildung und legitime Kultur. Wer als Fremde*r und Außenseiter*in in die Welt der legitimen Bildung und Kultur eintritt, wird sich nicht wie ‚ein Fisch im Wasser fühlen können‘, obwohl - oder eben weil - die Person sich dieses spezifische Wissen mühsam erworben hat. Wie kann also soziale Ungleichheit und Ausgrenzung verringert werden?

Wäre zum Beispiel die Anerkennung verschiedener sozialer und kultureller Wissens-Repertoires und Fähigkeiten nicht ein erster, notwendiger Schritt?

Der deutsche Soziologe und Erziehungswissenschaftler Aladin El-Mafaalani zeichnet ein interessantes Bild von unserer gegenwärtigen Gesellschaft: Ein Raum mit einem Tisch, an dem Menschen sitzen. In der Nähe des Tischs, auf dem Boden, sitzen auch Menschen. Am Tisch sitzt ein Teil der diversen Gesellschaft. Das war nicht immer so. Vorher saßen wenige am Tisch, vor allem weiße Männer. Durch gesellschaftliche Veränderungen sitzen nach und nach Frauen, Migrant*innen, BPoC, Menschen mit Behinderung mit am Tisch, die Teilhabe und Mitbestimmung einfordern und vorher auf dem Boden saßen. Auf dem Boden aber sitzen immer noch Menschen, bei denen sich das Versprechen der sozialen Mobilität durch Bildung nicht verwirklicht hat. Sie werden nicht angehört. Schlimmer noch: ihnen wird, so El-Mafaalani, von den Privilegierten am Tisch der Vorwurf gemacht, sich nicht genug angestrengt zu haben, also selbst schuld an ihrer Situation zu sein. Dazu passt die scharfe Beobachtung Bourdieus, dass Kämpfe um Verteilung und Deutungen Kämpfe sind, die innerhalb der herrschenden Klassen (classes dominantes) geführt werden. Wir müssen uns alle daher die Frage stellen, ob dies so bleiben soll.     

 

Unsere Diskursreihe AFTER TOMORROW#4 gibt es wieder am Samstag, dem 10. Oktober: Zur Produktion Trüffel Trüffel Trüffel beschäftigten wir uns mit der Frage, wie soziale Herkunft unser Handeln prägt. Mit beim (online) Gespräch: Bahareh Sharifi, Francis Seeck und Maja Bogojević. Weitere Infos dazu finden Sie hier.