„Wie viele andere wünsche ich mir kein Geld, sondern eine Perspektive?“

Theater Bremen CLUB goes UNPLUGGED und trotzt dem Abstand mit musikalischer Intimität. Tanz, Konzerte, Musik: momentan eher schwierig. Christoph Linder, Betreiber der Konzertagentur Planet Rock über seine Situation in der Corona-Krise.

Vor ein paar Tagen schrieb mir eine eine Berliner Musikerin. Sie meldete sich aus Österreich, wo sie auf einem Zwischenstopp von der Schließung der ungarischen Grenze und der damit verbundenen Absage eines Auftritts in Budapest überrascht worden war. Darüber dass diese Abschottung weniger den moderaten Zahlen der im Land an COVID-19 Infizierten, sondern dem nationalistischen Kalkül Viktor Orbáns geschuldet ist, herrscht unter internationalen Beobachtern weitgehend Einigkeit. Meine Bekannte hatte im Frühjahr ihren Nebenjob, mit dem sie sich bisher über Wasser gehalten hatte, wegen der Pandemie verloren. Momentan stockt sie ihr schmales Arbeitslosengeld I mit Arbeitslosengeld II auf. Die Soforthilfe II, deren großzügige und schnelle Bezahlung in Berlin im April quer durch die Medienlandschaft skandalisiert worden war, musste sie, da sie als Musikerin keine nennenswerten Geschäftsausgaben ausweisen konnte, zurückzahlen. Trotzdem klang sie vergnügt. Sie freue sich sehr auf ihren nächsten Auftritt beim renommierten Lausanne Underground Film und Music Festival in ein paar Wochen, das sich über die Jahre zu einem wichtigen „Hub“ experimenteller Sounds gemausert hat.

Am gleichen Abend erfuhr ich aus der Tagesschau, dass das Außenministerium eine Reisewarnung für den Schweizer Kanton Waadt (in dem Lausanne liegt) erlassen hatte.

Mein Name ist Christoph Linder. Es sind nur noch wenige Tage bis zu meinem einundfünfzigsten Geburtstag, seit 24 Jahren betreibe ich die seit 2002 in Berlin beheimatete Konzertagentur Planet Rock. Ich kann mich nicht erinnern, vor dem Eintreffen der Corona-Soforthilfe II jemals öffentliche finanzielle Unterstützung erhalten zu haben. Ich zögere etwas das zu schreiben – da ich viel mit subventionierten Häusern arbeite und also zumindest indirekt von Fördergeldern profitiert habe. Anders lassen sich die meisten der von mir verantworteten Tourneen wegen hoher Visa- und Reisekosten kaum realisieren.

Über die Jahre habe ich zwischen 4.000 und 5.000 Konzerte quer durch Europa vermittelt, so genau hab ich die nicht gezählt.

Am Anfang war ich vor allem im Bereich der experimentellen Musik unterwegs, buchte Legenden des deutschen „Krautrock“ und immer wieder Vertreterinnen und Vertreter des neuen Genres der „Glitch“-Elektronik, deren Show-arme Präsentation in den 90er Jahren einen Ausweg aus dem oftmals hemdsärmeligen „Macho“-Ästhetik des Rock zu weisen schien. Im Jahr 2010 erhielt ich die Gelegenheit, eine Tour für die kongolesische Daumenklavier-Combo Konono No. 1 vorzubereiten, die hochkomplexe Musik mit hinreißender Bühnenpräsenz verbanden. Das öffnete mir viele Türen mit anderen afrikanischen Musikerinnen und Musikern zu arbeiten. Mein Interesse an „Weltmusik“ (es scheint immer noch tatsächlich keinen besseren Begriff zu geben) war bereits zuvor durch die explodierende Szene der Musikblogs der „nuller“ Jahre wieder geweckt worden. Damals stellten fantasiebegabte Pop-Archivare unmöglich zu findende Musik aus aller Welt online, die Ambitionierteren versuchten, so viel Hintergrund-Informationen wie möglich zu diesen ungewöhnlichen Sounds zu sammeln, durchaus auch in einem musikethnologischen Sinne. Mit einem der prominentesten Namen aus diesem Bereich, dem amerikanischen Blogger (und jetzt auch Labelbetreiber und DJ) Brian Shimkovitz von „Awesome Tapes From Africa“ arbeite ich seit 10 Jahren. Ich betreue Künstler*innen aus dem Senegal, aus Mauretanien, Marokko, Ghana, Äthiopien, Simbabwe, Südafrika ... aber auch aus Thailand, Dänemark und den USA.

Dabei verstand ich meine Arbeit in der Nische immer als großen Luxus.

Oft in prekären Verhältnissen lebend, war mir meine Unabhängigkeit und mein Sturkopf heilig – ich kann genau mit den Leuten arbeiten, auf die ich Lust habe. Dass ich einmal wegen einer „Krise“ auf die staatlichen Brosamen angewiesen sein würde, die der Volksmund nach einem hochkorrupten VW-Betriebsrat benannte, hätte ich mir nie träumen lassen. Dass dies der Fall ist, nagt sehr an meinem Selbstbewusstsein. Auch die Suche nach alternativen Einnahmequellen und Jobs bot wenig Grund zu Erheiterung. Bei einem nicht sehr offiziellen Telefonat mit einer Kulturinstitution, mit der ich oft und erfolgreich als Agent gearbeitet hatte, erfuhr ich zu meinem Erstaunen, dass man sich dort für eine ausgeschriebene Position eine „junge Frau, die fit in kritischer Theorie ist“ wünsche. Bisher habe ich also selten nach der Anerkennung einer breiteren Öffentlichkeit geschielt – und war deswegen überrascht, wie sehr es schmerzt, bei der Lektüre der Morgenzeitung mein Wirken als gesellschaftlich wenig systemrelevant eingeordnet zu sehen.

Gerade werden Unsummen für einen „Neustart“ der Kultur mobilisiert, aber wie viele andere wünsche ich mir kein Geld, sondern eine Perspektive.

Man stelle sich vor, der deutschen Industrie wäre im Frühjahr signalisiert worden, dass es ja irgendwann einen Impfstoff geben würde, dann könnte man auch wieder produzieren. Genau das passiert aber im Veranstaltungsbereich. In anderen Ländern ist man da schon weiter: Das Virus wird leider nicht verschwinden, man sollte sich auf ein Leben mit ihm einstellen und sich mühen, ein fast unmögliches Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Freiheit herzustellen. Als potenzieller C19-Hochrisiko-Patient bin ich übrigens gegen eine bedingungslose Wiedereröffnung von Clubs. Es klingt paradox, aber ich erwische mich manchmal dabei, wie ich die erste Zeit der Krise, den „Lockdown“ (der bei uns ja nie wirklich ein solcher war) vermisse.

Amerikanische Freunde schrieben im März auf Facebook „see you on the other side“

Und das klang fast fröhlich, nach einem positiven Transformationsprozess: Ich verbrachte regnerische Nachmittage mit meinem Sohn zu Hause, wir bastelten und hörten Hörspiele. Wenn es das Wetter zuließ, waren wir draußen und entdeckten auf ausgedehnten Radtouren die grüne Stadt Berlin neu, er hatte glücklicherweise wenige Wochen vorher das Radfahren gelernt. Die Erinnerung an den Gesang der ersten Nachtigall im April überm Volkspark Prenzlauer Berg, einer verwilderten und seltsam entrückten Gegend an der Grenze zu Lichtenberg und Weißensee wird mir bleiben. Und ich „entdeckte“ damals mir unbekannte Musik via Bandcamp, Youtube und Facebook, neue und alte Alben im dutzend. Manche der Künstler*innen schrieb ich an, um ihnen eine Zusammenarbeit vorzuschlagen. Dazu gehört der südafrikanische Schlagzeuger Asher Gamedze, dessen sensationelles Debütalbum Dialectic Soul auch einen Beitrag zu seiner Dissertation über den Jazz seines Heimatlandes darstellt. Bei anderen hingegen traute ich mich nicht, wie bei schroffen Dreadlocks des hochpolitische Londoner Duos mit dem quietschigen Namen Bob Vylan. Deren Musik lässt sich nur sehr undeutlich als Mischung zwischen den Sleaford Mods und den Bad Brains beschreiben: Hiphop mit gesampelten Punk-Gitarren, mitten auf die 12. Wenn es eine Form von Gerechtigkeit im Pop gibt, werden diese Jungs noch ganz groß!

6 Monate später sind wir allerdings noch nicht auf der „anderen Seite“ angekommen:

Konzertdaten und -tourneen wurden aus dem Frühjahr und Sommer 2020 in den Herbst verlegt, und von da aus ins Jahr 2021, ob sie dann wirklich stattfinden können, steht noch in den Sternen. Momentan gehen mir verwaltungstechnische Wortungetüme wie „Arbeitslosengeld II Weiterbewilligungsantrag“ oder auch „Überbrückungshilfe“ leichter von der Zunge als der Neusprech des Schaugeschäfts – ganz einfach, weil die meiste Arbeitszeit dafür drauf geht. Ich halt mich dazwischen bei Laune, indem ich kleine Konzerte für die in Berlin lebende Simbabwerin Stella Chiweshe, das weibliche Noise / Jazz-Band Selvhenter aus Kopenhagen oder auch das Hamburger Duo Ashraf Sharif Khan und Viktor Marek arrangiere. Während Konzerte normalerweise mit einem Vorlauf von einem halben Jahr oder mehr gebucht werden, müssen jetzt drei oder vier Wochen ausreichen. Länger planen will niemand, da keine(r) weiß, ob diese Auftritte wegen ständig ändernden Vorschriften tatsächlich stattfinden können oder ob eine Anreise möglich ist.

Diese Wiederentdeckung des Kleinteiligen, Lokalen und Improvisierten macht manchmal sogar Spaß.

Wann afrikanische Interpretinnen und Interpreten wieder hierher kommen dürfen, bleibt unklar. Mir ist keine politische Initiative bekannt, die von der Öffnung der EU Außengrenzen spricht. Auch außerhalb von Lesbos ist „Festung Europa“ ist heute abweisender denn je. Als ich vor 20 Jahren in einem Plattenladen aushalf, fand ich im Ramsch ein Album der schrecklichen 80er Jahre Pop Band mit dem heute schon fast visionär anmutenden Namen China Crisis. Titel? Some People Think It's Fun To Entertain

 

Veröffentlichung: 14.09.2020