Wo ist Emilia?

Dramaturgin Elif Zengin über Abwesenheit, Suche und missverstandene Tugend.

Die Suche nach etwas setzt dessen Abwesenheit voraus. Entweder es ist wirklich nicht da oder wir finden an seiner Stelle nicht mehr das, was wir gewohnt sind. Es fehlt uns etwas, das ist klar. Wir suchen. Und in diesem Fall wissen wir wonach: nach Emilia.

Es mag nach einem Widerspruch klingen, dass ausgerechnet nach Emilia Galotti gesucht werden muss in einem Stoff, der nach ihr benannt ist.

In Gotthold Ephraim Lessings Drama, uraufgeführt 1772 in Braunschweig, kommt ihr Name sehr oft vor: Von ihrem anständigen Charakter ist immer wieder die Rede, ihre Schönheit wird in einem Gemälde verewigt. Sie ist die Braut, dessen Verlobter ermordet wird. Sie ist die Verehrte des Prinzen, der sie in seinen Besitz nehmen möchte. Sie ist die Tochter von Eltern, die um ihre Tugend besorgt sind. Sie ist gemeint in dem Satz, in dem ihr Tod durch Vaterhand begründet wird: „Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert.“ „Sie ist doch da!“, könnte man also behaupten. Man könnte meinen, „Die Geschichte handelt doch von ihr“ und hinterfragen: „Wozu die Suche?“  

Die Suche nach Emilia ist die Suche nach ihrer Stimme – anstelle von Fremdzuschreibungen. Die Suche nach Emilia ist die Suche nach ihrer Anwesenheit – anstelle eines Objekts in einem Gemälde. Die Suche nach Emilia ist die Suche nach ihrer Existenz – anstelle ihrer Leiche.

Es wird also nach der Titelfigur als Subjekt gesucht: Wer ist sie überhaupt und wo, wenn sie kaum auftritt? Sie selbst bleibt nämlich über den Dramenverlauf reine Projektionsfläche und Gegenstand männlicher Besitzansprüche, ihr Redeanteil ist weniger als zehn Prozent. Aus dieser kuriosen Ausgangslage heraus treibt Rahel Hofbauer in ihrem Regiedebüt das Spiel mit der Suche auf die Spitze. Dabei bleibt die Figur, um die sich alles dreht, eine Leerstelle: Wo ist Emilia? Die Titelfigur tritt in der Inszenierung Emilia_Galotti nicht auf, sie wird nicht verkörpert. Ihre Abwesenheit ist mit der Stille markiert. Die ausgestellte Lücke macht sie dadurch umso präsenter. Wie es mit Lücken so ist – man weiß, was an ihrer Stelle eigentlich sein sollte. Der Unterstrich in dem Titel ist nur der typografische Hinweis auf diesen Versuch. Sei es der Unterstrich oder die Lücke, die im Bühnenboden entsteht, die Strukturen von Lessings Stoff werden in dieser Inszenierung ausgestellt, bespielt und hinterfragt.

Die Untersuchung von Emilia Galottis Abwesenheit bleibt dabei eine Kritik gegenüber patriarchalen Gewaltstrukturen, deren Täter und Erzähler meistens Männer sind.

Lessings Stoffvorlage für sein Trauerspiel war die Legende um Virginia aus Titus Livius Römische Geschichte, die schon damals über 2000 Jahre zurücklag. Die Römerin Virginia wird von ihrem Vater ermordet, um sie vor der Willkür des Decemvirn Appius Claudius zu beschützen. Der Tod von Emilia Galotti beruht auf demselben konservativen Wertesystem, das die Tugend über die Existenz von Frauen stellt. Diese Geschichten rühren aus einer Tradition, in der Frauen aufgrund einer sogenannten „Schändung, wodurch sie ihre Reinheit verlieren“ und in Konsequenz „zur Befreiung von Schuld“ ermordet werden oder sich selbst umbringen. Die Inszenierung von Rahel Hofbauer untersucht diese historischen Narrative von Familiendynamiken, Machtverhältnissen sowie Gewaltstrukturen auf ihre Aktualität hin und setzt sie in Relation zu zeitgenössischen Texten. Wie lässt sich umgehen mit der Kette der Gewalt? Was passiert, wenn wir nach Emilia suchen – werden wir sie finden?

 

 

Veröffentlicht am 12. September 2023