Wort ergreifen!

Die Dramaturginnen Theresa Schlesinger und Marianne Seidler stellen anlässlich der Solidaritätsveranstaltung „Wort ergreifen!“ Literatur aus und über die Ukraine vor.

„Was ändert der Krieg? Der Krieg ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dahin nur aus historischen Romanen kannte. Vielleicht weil der Krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen, meist riecht sie verbrannt.“ (Aus: Serhij Zhadan: Warum ich nicht im Netz bin) Für Putin ist die Ukraine genau das, was der Name des Landes im Russischen bedeutet: „U-kraine“ - „Am Rande“. Die Ukraine ist in seinen Augen weder eine eigenständige Nation, noch hat sie eine genuine, ukrainische Kultur. In Vorbereitung für den Lesemarathon für die Solidaritätsveranstaltung Wort ergreifen! lassen wir uns in die zeitgenössische ukrainische Literatur ein. Diese vibrierende Szene, die sich oftmals mit der wechselvollen Geschichte des Landes beschäftigt, beweist das Gegenteil. Wir stellen einige der Autor:innen und ihre Romane vor.

Juri Andruchowytsch (Hg.): Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht

„‚Ich gehe auf den Maidan. Wer kommt mit?’, schrieb der ukrainische Journalist Mustafa Najem im November 2013 auf Facebook. Aus einer lokalen Demonstration gegen die autokratische Entscheidung des Präsidenten Wiktor Janukowytsch, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen, wurde eine landesweite Protestbewegung: der Euromaidan.“

Der ukrainische Autor Juri Andruchowytsch veröffentlichte kurz nach der Revolution auf dem Kiewer Maidan im Jahr 2014 und noch vor der Besetzung der Ost-Ukraine diesen Sammelband, in dem verschiedene Autor:innen in 15 Beiträgen über den Euromaidan und das, was er für die ukrainische Demokratie bedeuten könnte, nachdenken und diskutieren.

Yevgenia Belorusets: Glückliche Fälle

„Jetzt sind die Gefechte hier schon lange vorbei. Aber das Horoskop gibt immer noch dieselben Ratschläge, die Formulierungen haben sich nicht geändert und wir verstehen sie nicht mehr.“ Yevgenia Belorusets porträtiert Frauen zwischen Kiew und dem Donbass, denen sie persönlich begegnet ist. Was nach einer dokumentarischen Arbeit klingt, ist jedoch deutlich literarisch und eigensinnig gestaltet. Wir lernen Floristinnen, Schwestern und Kundinnen im Kosmetikstudio kennen, die alle von Besatzung und Aufstand betroffen sind. Die Verbindung des Alltäglichen mit dem Ausnahmezustand des schwelenden Krieges stellt Belorusets subtil in teils traumartigen und oft absurden Szenen her. Yevgenia Belorusets ist Fotografin, Künstlerin und Schriftstellerin. Sie lebt abwechselnd in Kiew und in Berlin und beschäftigt sich mit den Schnittstellen von Kunst, Medien und Gesellschaft.

Julia Kissina: Frühling auf dem Mond 
Julia ist ein zwölfjähriges Mädchen, verträumt und rebellisch, die in der späten Breschnewzeit in Kiew aufwächst. Julia Kissina gehörte in den 80er Jahren zum Kreis der Moskauer Konzeptualisten um Vladimir Sorokin und Pawel Pepperstein und machte sich mit spektakulären Kunstaktionen und als Fotokünstlerin auch international einen Namen. In Frühling auf dem Mond beschreibt sie ihre sowjetische Kindheit auf sehr besondere Weise und nimmt uns mit in ihr Kiew.

Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther
Hieß sie wirklich Esther, die Urgroßmutter, die alle nur Babkuschka nennen? 1941 blieb sie allein im besetzten Kiew zurück – und wurde dort schließlich von deutschen Soldaten erschossen. Katja Petrowskaja erzählt eine unabgeschlossene Familiengeschichte, die ungewiss bleibt. Auf den Spuren ihrer Urgroßmutter findet die Autorin einen ganz besonderen Weg, um über den Hergang des Völkermordes an der jüdischen Bevölkerung von Kiew durch die Nationalsozialisten zu erzählen und mit ihrer eigenen Geschichte zu verweben.

Katharina Raabe und Manfred Sapper (Hg.): Testfall Ukraine: Europa und seine Werte Europa. Historisch, ökonomisch, militärstrategisch, geopolitisch und immer wieder: aus nächster Nähe, vom Standpunkt des Augenzeugen in Kiew, im Donbass und in Moskau, wird in den Essays dieses Sammelbands der Frage nachgegangen, wie das künftige Zusammenleben in Europa aussehen könnte, wenn Russland und der Westen sich feindlich gegenüberstehen. In Beiträgen von Alice Bota, Andreas Kappeler, Kateryna Mishchenko, Herfried Münkler, Serhij Zhadan und anderen wird in diesem 2015 herausgegebenen Essayband nach Antworten gesucht auf die Frage, wie es nach der Maidan-Revolution in Kiew, der Annexion der Krim und der Invasion russischer Truppen in Nowoasowsk zu der Zuspitzung des Konflikts zwischen Russland und dem Westen kommen konnte.

Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein
Zwei Generationen. Zwei Welten. Sowjetunion und BRD. Mütter und Töchter. Die Geschichten von Lena und ihrer Freundin Tatjana, die in den 90er Jahren die Ukraine verlassen und nach Deutschland kommen, sind eng verbunden mit der Sowjetunion und deren Zusammenbruch. Ihre Töchter Edi und Nina verbindet die bundesdeutsche Realität nach der Wiedervereinigung. Sasha Marianna Salzmann schreibt über die Verstrickung von Generationen, zerfallenden Systemen und Menschen inmitten von Umbruch und Zerstörung.

Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol

Eine Tochter macht sich auf die Suche nach den Spuren ihrer Mutter. 1944 von den Nazis verschleppt, musste die junge Frau aus der Ukraine ihre Heimatstadt Mariupol verlassen. Fast ein halbes Jahrhundert später zeichnet ihre Tochter in Form einer Spurensuche das Leben ihrer Mutter nach, schreibt an gegen das Vergessen der ausländischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen in deutschen Lagern.

Serhij Zhadan: Internat
Serhij Zhadan zählt zu den bekanntesten literarischen Stimmen der Ukraine. In seinem Roman „Internat“ schildert er wie sich die vertraute Umgebung in ein unheimliches Territorium verwandelt. Darin möchte ein junger Lehrer seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt nach Hause holen, als die Schule unter Beschuss gerät. Auf dem Heimweg werden sie Zeugen von Kampfhandlungen und brauchen einen ganzen Tag, um die apokalyptische urbane Landschaft zu durchqueren, die nun ihre Stadt ist.

Information zur Solidaritätsveranstaltung:

Am kommenden Freitag, dem 18. März 2022 findet die Solidaritätsveranstaltung Wort ergreifen! statt, die das Theater Bremen gemeinsam mit der globale° - Festival für grenzüberschreitende Literatur, der bremer shakespeare company und dem Literaturhaus Bremen veranstaltet. Es lesen die Ensembles der bremer shakespeare company und des Theater Bremen, Studierende der Universität Bremen und der Universität Oldenburg. Mit Videobeiträgen vom Autor Dimitrij Kapitelman und der ukrainischen Literaturwissenschaftlerin Dr. Oxana Matiychuk sowie musikalischen Beiträgen von der HfK Bremen und Natalie Shtefunyk.

 

 

Veröffentlichung: 16.3.22