Zum Dicken Klaus
Erinnerungen an den Theaterleiter Klaus Pierwoß. Ein Text von Michael Laages.
Alle wichtigen Stimmen haben ja gleich gesprochen und geschrieben, nachdem Klaus Pierwoß gestorben war am Pfingstsonntag, im 80. Jahr … und viel war zu lesen, zu hören und zu sehen über diesen sehr besonderen Menschen, der sich für keinen Zoff und keinen Zinnober zu schade war, wenn es ums Theater und dessen Überleben ging in immer schwierigeren Zeiten. Dafür zwängte er sich mit einiger Anstrengung ins recht knappe Kicker-Leibchen in den Farben vom SV Werder, während neben ihm Otto Rehagel, später, in Griechenland und nach Gewinn der Europameisterschaft, mal kurzzeitig „König Rehakles“, in Frack und mit Zylinder den Theater, besser: Zirkusdirektor geben durfte. Mit Werder-Manager Willi Lemke konnte der richtige Intendant sowieso immer gut, er radelte auch mit Henning Scherf ins Weserstadion, natürlich auf dem roten Theaterrad, das er als Werbeträger von einer sozial besonders verantwortlichen Fahrradschmiede herstellen ließ: für Freunde und Freundinnen des Theaters.
Ich hab‘ auch eins.
Ich bin aber auch Straßenbahn gefahren in Bremen. Nicht nur gefahren – ein paar Stunden lang durfte ich Künstlerinnen und Künstler begleiten im Gespräch, die Schmankerln aus den verschiedenen Sparten des Theater auf den Schienen einer Sonderstrecke durch die Bremer Stadtteile präsentierten. Das war die allerschönste Moderatoren-Tätigkeit, für die ich jemals engagiert worden bin. Dann stand aber auch eine Groß-Skulptur aus Stühlen vor dem Theater auf dem Goetheplatz, und natürlich bekam Johann Kresniks legendäre Inszenierung des Karl-Kraus-Marathons über Die letzten Tage der Menschheit im Bunker Valentin in Farge das passend schmerzhafte Reiz- und Schock-Bild vor’s Theater gestellt. Das Bunker-Ereignis hätte eine Geschichte für sich verdient. Und wenn jemals jemand an irgendeiner Kunst-Universität eine Magister-, Diplom- oder Doktorarbeit schreiben möchte über Management und Marketing am Theater, sollte er oder sie sich unbedingt auf die Spuren von Klaus Pierwoß begeben. Regine Maier, die unvergleichliche Inge Schielein und Frank Schümann, sie allesamt mit Pressearbeit beschäftigt, können Auskunft geben.
Pierwoß scheint PR erfunden zu haben – vor Urzeiten in Tübingen, als er mal einen leibhaftigen Elefanten engagiert hatte, um die Werbetrommel zu rühren; für das Württembergische Landestheater dort, das er damals leitete.
Aber ich will ja nicht die Großtaten abhaken, nicht erzählen, was schon alle erzählt haben; stattdessen berichten vom ersten und vom letzten Tag. Ich erlebte ja extrem erfreuliche, meinerseits unvergessene 17 Jahre als Mitarbeiter von Radio Bremen; und nach etwas mehr als der Hälfte schickte mich eines Tages 1994 (ich hatte das Journal am Morgen moderiert) die Redaktion dankenswerterweise zur Vorstellung des neuen Intendanten am Bremer Theater; Helga Trüpel, die grüne Kultursenatorin damals, machte mich sozusagen mit Klaus Pierwoß bekannt. Ich hatte Hansgünther Heyme nach Bremen kommen und sehr schnell wieder gehen sehen; die damals ganz frische Karriere des Klaus Pierwoß war mir bekannt – er hatte zuletzt den Job als Schauspiel-Intendant in Köln eingetauscht gegen den des Chefdramaturgen am kleinen und in deutscher Nachwendezeit besonders problemreichen Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Dort war noch Albert Hetterle Intendant, treuer Parteisoldat einerseits, andererseits aber derart desillusioniert von der in die Abwicklung driftenden DDR, dass er mit zu den wichtigsten Persönlichkeiten des Umbruchs gehörte: in Volker Brauns Übergangsgesellschaft. Hetterle passte nicht mehr in die Zeit, Pierwoß passte eigentlich nicht nach Berlin und auch nicht zu Hetterle – aber der sture Emsländer konnte in den Trümmern der Arbeiter- und Bauern-Hauptstadt Fäden aufgreifen und verstärken, die ihm auch vorher schon wichtig gewesen waren. Immerhin hatte er (mit Unterstützung der Behörden) noch vor der Wende den Regisseur Frank Castorf als erster in den Westen und nach Köln geholt, er kannte auch Castorfs mindestens ebenso wichtigen Kollegen Herbert König, er pflegte gute Kontakte zu den damals aktuellen dramatischen Stimmen des Landes, etwa zu Volker Braun … und Pierwoß bewies ja Mut zum Risiko mit dieser Orientierung nach Osten. Die Mehrheit im Westen sonnte und suhlte sich ja gerade im (ziemlich unverdienten) Hochgefühl des Sieges über den bösen Kommunismus.
Und erst jetzt, über dreißig Jahre später, lernen wir unter anderem, dass auch das ein Fehler war. Ein schlimmer Fehler sogar.
Dieser Neue in Bremen würde also unbedingt interessant werden – und das Ensemble vor allem im Schauspiel rechtfertigte dieses Interesse Jahr um Jahr mehr. Cornelia Heise und Matthias Brenner habe ich in Bremen kennen gelernt, Gabriela Maria Schmeide und Anika Mauer, zwei der stärksten Frauen, die ich jemals gesehen habe im Theater, dann Gabriele Möller-Lukasz und Susanne Schrader, später Irene Kleinschmidt; und bei den Männern ließ sich Torsten Ranft nach Bremen locken, der junge Heiko Senst stieß hinzu … stets war Pierwoß schon auf der Spur junger Talente, wenn andere Intendanten noch auf’s Vorsprechen warteten.
Da waren wichtige junge Leute aber oft schon in Bremen engagiert.
Es wurde wichtig, in Bremen „dabei zu sein“; auch die Theaterfreunde tummelten sich und lobten den Kurt-Hübner-Preis aus. Die Jury-Arbeit wie die Verleihungen waren oft wunderschön – besonders, wenn Hübner selbst anreiste. Niemandem habe ich lieber zugehört beim Räsonieren als ihm. Und die Erinnerung an Pierwoß kann ich gar nicht denken ohne Hübners Echo. Pierwoß hatte selbst Grund genug zum Zetern und Lärmen angesichts mancher politischer Gepflogenheiten in Bremen; auch das verband ja Klaus mit Kurt. Ein Musicaltheater bauten die Honoratioren ihm vor die Nase – und als es dann pleiteging, hat Pierwoß den leeren Ort bespielt.
„Zum Dicken Klaus“ hieß die Theaterkneipe.
Der letzte Abend war der im Sommer 2007, als die Stadt ihn letztlich weggegrault hatte. So viel war entstanden in 13 Jahren – aber wem war da wirklich zum Feiern zumute? Immer mal wieder traf ich den alten Freund (ja: Freund!) in Berlin, wohin die Familie gezogen war; immer hatte er Lust auf eine Art Strategie-Debatte – obwohl er dafür ja nun wirklich nicht mehr zuständig war, auch in der Dramaturgischen Gesellschaft nicht mehr. Und als sei es gestern gewesen, steckt mir die allerletzte Begegnung im Gedächtnis – der „dicke Klaus“ im Rollstuhl, vom Sohn geschoben und von dieser wunderbaren Gattin Dorothea Pierwoß begleitet, die den eigentlich ja beratungsresistenten Partner dann irgendwie doch immer auf dem richtigen Weg gehalten hatte, als eine Art geheimer Managerin … im Hamburger Schauspielhaus war das. Wenn ich mich nicht irre, wollte Pierwoß sich noch einmal eine Bühne von Wilfried Minks anschauen.
Nun ist er dem alten Freund gefolgt. Schon bei diesem letzten Abend in Hamburg war die Trauer groß. Jetzt ist sie es erst recht.
Veröffentlichung: 10.6.22