Wenn Singen nicht ansteckend sein darf ...

Über Probleme beim Singen, Lieben und Morden – alles was eine Oper so braucht: Brigitte Heusinger über die Herausforderungen für das Musiktheater

Corona verändert auch für Theatermacher:innen die Sichtweise. Seit vielen Jahren gehe ich nahezu tagein-tagaus ins Theater und sehe oft mehrere Dutzend Proben einer Oper, bevor ich in die Premiere gehe. Selten, aber manchmal ertappe ich mich dann dabei, dass ich die Musik wirklich nicht mehr hören mag. Jetzt, beim Saisonstart, musste alles schnell gehen. Kaum Durchläufe für die Gala. Und es sollten ja auch nicht schrecklich viele Menschen im Proberaum sein. So habe ich zwar zwei Endproben gesehen, bin dann aber gefühlt wie eine normale Zuschauerin in die beiden Wochenendpremieren gegangen. Und ich muss sagen, Theater ist schon was Tolles. Man dödelt am Wochenende so vor sich hin, frühstückt, geht auf den Markt, geht spazieren und kann dann gen Abend etwas machen, das einen so richtig aus der Realität holt, das etwas ganz anderes ist. Etwas, das nicht nur vorhersehbar ist, sondern, das überraschen kann. Etwas, worüber man sich mit der Frau oder dem Mann oder der Freundin, dem Freund an der Seite austauschen kann – einfach Geistesnahrung. Ich fand es toll.

Aber ansonsten ist es nicht nur leicht und erfreulich, das Theatermachen in Coronazeiten. Gerade im Musiktheater.

Einfach zu viel Personal, riesige Orchester, ein Chor, der knapp aus 40 Menschen besteht, und Sänger:innen, die eben nicht nur dezent den Mund öffnen, sondern durchaus auch mal Riesentöne tief in den Raum schleudern, so dass sie noch im 2. Rang unverstärkt ankommen. Lautstärke ist zwar nicht alles, es gibt kaum etwas Schöneres als ein gehauchtes Piano, aber manchmal darf ein Spitzenton dann schon richtig krachen. Wie weit dann aber die gefährlichen Teilchen beim Spitzenton transportiert werden und ob Sprechen oder dann doch Singen gefährlicher ist, darüber herrscht noch wissenschaftliche Uneinigkeit. Und immer neue, andere und auch verwirrende Erkenntnisse landen auf unseren PCs. Doch wir haben etwas, an das wir uns halten können. Im Theater Bremen gelten die SARS-COV-2- Arbeitsschutzstandard Empfehlungen für die Branchen Bühnen und Studios der gesetzlichen Unfallversicherung VBG. Im Passus Bühne- und Vorstellungsbetrieb heißt es: „Auf der Proben- oder Szenenfläche agierende Personen, die bewegungsintensiv, tanzend, exzessiv sprechend oder singend eine Rolle proben oder darstellen, haben einen Abstand zu anderen Personen von mindestens 6 m einzuhalten.“ Doch es gibt einen entscheidenden Nachsatz, der uns ein wenig hoffen lässt: „Eine Verringerung des Mindestabstandes auf 3 m kann nur bei verstärkter Lüftung und nachweislicher Einhaltung einer maximalen CO2-Konzentration der Raumluft von 800 ppm erfolgen.“ Und jetzt hat die Technik gemessen und festgestellt, dass die Werte in den Zuschauerräumen weit unter 800 ppm liegen. Sie hat sogar festgestellt, dass die Klimaanlage ganze Arbeit liefert und die Theaterluft fast so gut ist wie die Außenluft, die als Vergleichsparameter herangezogen wird (siehe das Interview Keine dicke Luft im Theater: PPM, Kohlendioxidkonzentration und Zuschauersäle mit dem Technischen Direktor Frank Sonnemann zu diesem Thema). Jetzt also dürfen sich Darsteller:innen auf der Bühne, in den Proberäumen bis auf drei Meter naherücken. Doch auch so wird es für unsere Kollektive zu eng in den Räumen.

Eigentlich bräuchte es Tanzsäle, riesige Hallen.

Denn was tun zum Beispiel mit den knapp 40 Chorist:innen am Theater Bremen? Hände in den Schoß legen? Keine Option für Chordirektorin Alice Meregaglia. Singen muss regelmäßig trainiert werden, die Stimmen müssen geölt bleiben, das Repertoire draufgeschafft werden. Zu gerne würde sie zudem ein Programm einstudieren, das die momentanen Einschränkungen für das Singen ganz deutlich vor Augen führt. Ein Konzert mit dem Titel Bocca chiusa, ein Konzert mit geschlossenen Mündern. Vielleicht angereichert durch das zeitweilige Tragen von Masken und ergänzt mit Liedern ohne Konsonanten, denn sie sind es, die gerne Aerosole in die Luft befördern. Ja, wenn die Operntexte nur aus Vokalen beständen, wäre es leichter. Italienisch dürfte daher vergleichsweise ungefährlich sein und Deutsch hingegen verheerend.

Das hieße: Wagner-und Straussverbot wegen Konsonantengefahr?

Doch, egal in welcher Sprache, es bedarf zum Üben eines Raumes, den es in der nötigen Größe für 40 Menschen nicht gibt. Das bedeutete zu Saisonbeginn: Ausweichen ins Freie. Kein leichtes Unterfangen mit Sänger:innen, die berufsbedingt Angst vor Kälte und Zug haben müssen. Zudem beschweren sich die Nachbar:innen über die Lärmbelästigung aus dem Theaterhof. Was man ihnen auch nicht verübeln kann, waren sie doch im Juni/Juli regelmäßig unfreiwillige Ohrenzeug:innen der Hofkonzerte. Und so blieb nichts anderes übrig, als das E-Piano vors Haus zu stellen und auf dem Goetheplatz zu proben. Ein Vorteil: Dann sehen und hören die Passant:innen wenigstens, dass das Theater wieder da ist und der Spielbetrieb, den man so gerne regulär nennen würde, wieder losgeht.

Für die Solist:innen sieht es besser, aber nicht nur gut aus.

Sie sind weniger und singen eher alleine, zu zweit oder in kleineren Ensembles. Aber auch hier gerät man beim szenischen Proben schnell an die räumlichen Grenzen. Denn ein:e Regisseur:in sollte schon da sein, eine Frau/ein Mann am Klavier, das braucht man auch. Und ohne Regieassistent:in geht gar nichts. Und wenn dann die Dramaturgin vorbeischaut (das ist schließlich Teil ihres Jobs), der Dirigent sich rühmlicherweise blicken lässt und auch die Ausstattungsassistentin guckt, ob alle Bühnenteile auf der Probebühne gut markiert sind, dann wird es schnell eng.

Und was bedeutet es für die Vorstellungen, wenn die Darsteller:innen mit großen Sicherheitsabstand hinter der Bühnenkante singen müssen?

Denn davor sitzt ja das in der Regel reduzierte Orchester im Graben, und zu den Musiker:innen sollten auch keine Aerosole herunterschweben. Haben die Darsteller:innen dann noch Kontakt zum Publikum? Was passiert, wenn ein Requisit, das gemäß des Librettos durch alle Hände gehen soll, nicht undesinfiziert weitergereicht werden darf?

Und wie lässt es sich lieben mit drei Metern Abstand zum Objekt der Begierde und vielleicht noch interessanter die Frage, wie es sich morden lässt ohne handgreiflich werden zu können?

Das klingt jetzt alles so, als würde das Musiktheater nur noch aus Einschränkungen bestehen. Und machen wir uns nichts vor: Wir werden den Chor mal über Video-Einspielungen singen sehen und Orchester in kleineren Besetzungen hören. Die Opern werden zum Teil stark eingestrichen sein, und das Publikum wird Arien und Ensembles in der Zauberflöte vermissen. Aber die Salzburger Festspiele haben es uns vorgemacht: Es ist der Geist, der zählt. Auch wenn es in Salzburg keine Abstandsregelungen auf der Bühne gab, macht das Vorpreschen der Festspiele Mut. Weil die Konzentration auf die Kunst, die Verdichtung der Mittel, die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzungen wohl beeindruckend gewesen sein muss. Und auch weil es dort – zumindest beim Stand des Schreiben des Artikels – keine Infektionen gab.

Denn Spielen wollen, ist das eine. Das Andere ist: Es muss alles dafür getan werden, dass sich die Zuschauer:innen sicher fühlen.

Dann mordet man halt mit Abstand und gibt sich Luftküsse. Und überhaupt: Um die Kunst muss man sich nicht so furchtbar große Sorgen machen. Das Bedürfnis der Künstler:innen, sich nach dieser gefühlt ewigen Zeit des Stillstand wieder in ihrem Metier ausdrücken zu können, ist riesig. Und es wäre doch gelacht, wenn die Abstinenz nicht die Kreativität anheizen würde und sich nicht neue Ausdrucksformen finden ließen, die uns Schauer über den Rücken jagen oder ein Wohlgefühl der unbändigen Freude bescheren. Ich jedenfalls bin gespannt.

 

Veröffentlichung: 16.09.2020